Das 2000 in Jakarta gegründete Kollektiv Ruangrupa besteht aus über 50 Personen. Zehn von ihnen waren für die Leitung der Documenta 15 verantwortlich. Iswanto Hartono (Dritter von links) ist einer davon.
Foto: Jin Panji

Vor rund zwei Wochen ging die Documenta 15 zu Ende. Die Weltkunstschau in Kassel war von Anfang an mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert. Die erste Kritik kam im Jänner 2022, als Mitgliedern des indonesischen Kuratoren-Kollektivs Ruangrupa sowie eingeladenen Künstlern eine Nähe zur Israel-Boykottbewegung BDS nachgesagt wurde. Kurz nach der Eröffnung Mitte Juni wurde das Banner People’s Justice des Kollektivs Taring Padi abgebaut, weil darauf antisemitische Motive entdeckt worden waren. Der Aufschrei war groß, die Reaktionen blieben lange aus, schließlich entschuldigten sich alle Beteiligten. Nach weiteren als problematisch eingestuften Funden veröffentlichte ein Expertengremium Mitte September einen Bericht, der unter anderem den sofortigen Stopp propalästinensischer Propagandafilme forderte. Das Kollektiv sprach von Zensur, der Film lief bis zum Ende der Schau.

Nun ist Ruangrupa in der Gruppenausstellung Loving Others im Wiener Künstlerhaus vertreten, die am Mittwoch, eröffnet wird. Am Dienstag gab das Kollektiv einen Talk zum Thema "Post-Documenta: Wo stehen wir?" an der Akademie der bildenden Künste. In kleinem Rahmen wurde über das Geschehen laut nachgedacht, angekündigt wurde das Event sehr zurückhaltend. Aufgeworfene Fragen: War Europa überhaupt bereit für ein derartiges kuratorisches Konzept? Und sollten wir anstatt über Anschuldigungen über Rassismus sprechen?

Der STANDARD sprach exklusiv mit Iswanto Hartono von Ruangrupa und traf ihn in der sich zu dem Zeitpunkt noch im Aufbau befindlichen Ausstellung im Künstlerhaus. Vor deren Eröffnung reist er wieder weiter. Nächste Woche treten er und sein Ruangrupa-Kollege Reza Afisina eine Gastprofessur an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg an. Die Kritik folgte prompt.

STANDARD: Man hatte den Eindruck, dass die Kommunikation während der Documenta nicht wirklich gut funktionierte. Nachdem antisemitische Motive Mitte Juni auf dem Banner "People’s Justice" von Taring Padi entdeckt worden waren, ließen erste Reaktionen auf sich warten. Warum hat das so lange gedauert?

Hartono: Das hat uns wirklich schockiert. Wir alle waren unsicher, wie wir damit verfahren sollten. Wir von Ruangrupa haben versucht, damit umzugehen, und auch die Documenta GmbH hat es versucht. Zugegeben, unter diesem hohen Druck und in der sehr kurzen Zeit haben einige Dinge nicht gut funktioniert. Die Organisation war nicht wirklich offen für Diskussionen. Wir waren immer offen für Gespräche. Als wir in den Bundestag eingeladen wurden, sind wir allein gekommen. (Ade Darmawan sprach im Namen von Ruangrupa am 6. Juli im Ausschuss für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag, Anm.) Wir haben gezeigt, dass wir für das, was passiert ist, verantwortlich sind.

STANDARD: Öffentliche Diskussionen haben aber nicht funktioniert, und Ihr erstes großes Interview fand Wochen nach dem Abbau des problematischen Banners statt.

Hartono: Es ist nicht so einfach, wenn die gesamten deutschen Medien auf dich zeigen und dich beschuldigen. Wir haben versucht, mit der Geschäftsführung zu besprechen, wie wir damit umgehen können. Unsere Entscheidungen treffen wir nicht allein. Es geht nicht nur um unser Kollektiv, sondern um das gesamte Ökosystem. Wir sprechen im Namen aller eingeladenen Künstler, weil wir vereint sind.

STANDARD: Wie erreichen Sie einen Konsens innerhalb von Ruangrupa?

Hartono: Wir vertrauen uns gegenseitig. Wir stimmen nie ab. Wir reden und verhandeln über Themen. Zehn von uns haben für die Documenta gearbeitet und Entscheidungen getroffen, aber Ruangrupa besteht aus viel mehr Menschen. Ich kann nicht genau sagen, wie viele. Das Ökosystem hat vielleicht 50 bis 60 Mitglieder.

STANDARD: Was ist, wenn nur ein Mitglied dagegen ist?

Hartono: Das ist in 22 Jahren nicht passiert.

STANDARD: Ihre kuratorische Arbeit besteht darin, dass Sie kaum Kontrolle ausüben. Viele Projekte entwickelten sich erst während der Ausstellung, vieles war unvorhersehbar. Ist es nicht die Aufgabe der Kuratoren, die ausgestellten Werke zu kennen?

Hartono: Das kommt darauf an. Wir sind Künstler aus diversen Bereichen, niemand von uns hat kuratorisches Arbeiten studiert. Es gibt mehr als die eine Art des Kuratierens, bei der eine Person alles kontrolliert. Mit unserer Arbeit versuchen wir, ein Kuratorensystem zu schaffen, das inklusiver ist. Man muss nicht kontrollieren, sondern einander vertrauen.

STANDARD: Sehen Sie Probleme in diesem System?

Hartono: Ja, natürlich gibt es Risiken. Aber in einem von oben nach unten gerichteten Kuratorensystem gibt es auch Probleme. Im Fall des Banners von Taring Padi haben wir uns gemeinsam mit den Künstlern entschuldigt. Und: Die Künstler wollten das Transparent abnehmen, noch bevor die Stadt und der Geschäftsführer der Documenta dies beschlossen haben.

STANDARD: Die große Frage ist, warum diese Arbeit mit dem problematischen Ausschnitt in die wichtigste Schau zeitgenössischer Kunst in Deutschland kam?

Hartono: Wir sind gegen Antisemitismus, Rassismus, Fundamentalismus und alle Arten von Diskriminierung. Wir luden die Künstler auf der Grundlage der Lumbung-Werte ein, zum Beispiel Großzügigkeit, Teilen, Humor und Konflikt. Viele Werke von Taring Padi sind Teil ihres Konflikts mit dem indonesischen Regime und dessen Folgen. Der Banner wurde vor 20 Jahren geschaffen – nicht in einem europäischen Kontext. Das Werk war nie als antisemitisch gedacht.

STANDARD: Aber die Motive darauf werden als antisemitisch eingeordnet.

Hartono: Von diesem großen Transparent war nur ein kleiner Teil problematisch. Wir haben dieses nicht mit einem Mikroskop überprüft, weil wir das Kollektiv und dessen Praktiken seit vielen Jahren kennen. Ihre Arbeiten waren nie rassistisch oder antisemitisch. Wir vertrauen ihnen. Aber sie haben auch zugegeben, dass der Prozess der Herstellung dieser großen Transparente als Kollektiv schwer zu kontrollieren ist. Es gibt nicht einen einzigen Maler, der jeden Zentimeter kennt. Etwa zehn Künstler haben zusammengearbeitet, einige davon sind bereits verstorben. Aber das ist keine Entschuldigung.

STANDARD: Wenn Sie das Werk gekannt hätten, hätten Sie es gezeigt?

Hartono: Nein, das wäre ein ganz anderer Fall. Wir hätten darüber sprechen können.

STANDARD: In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" sagten Sie, wenn es nicht der Antisemitismus gewesen wäre, hätte es einen anderen Grund gegeben, Sie zu kritisieren. Sehen Sie sich als Opfer?

Hartono: Ich sage nicht, dass wir Opfer sind. Aber schon bevor wir als Kuratoren ernannt wurden, begannen die Medien, uns anzugreifen. Es gab noch nie indonesische Künstler bei der Documenta, wir sind die erste kuratorische Leitung aus Asien. Man zweifelte, wie denn ein unbekanntes Kollektiv aus der Dritten Welt die Documenta kuratieren könne. Unsere Fähigkeit, diese Ausstellung zu leiten, wurde infrage gestellt, noch bevor wir überhaupt angefangen hatten. Vielleicht, weil wir nicht weiß sind? Seit das Transparent von Taring Padi abgenommen wurde, gab es eine Anschuldigung nach der anderen.

STANDARD: Halten Sie diese für gerechtfertigt?

Hartono: Mit Ausnahme des Banners von Taring Padi waren sie nicht gerechtfertigt. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man einen Staat kritisiert oder antisemitisch ist.

STANDARD: Sie sprechen von Kritik an Israel?

Hartono: Ja. Damit verhält es sich wie bei jeder anderen Kritik gegenüber einem Land, sei es China oder die USA.

STANDARD: Die anfänglichen Vorwürfe entstanden aufgrund der Nähe zur Israel-Boykottbewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions, Anm.) einzelner Mitglieder von Ruangrupa und beteiligter Künstler. Die Bewegung wird von Deutschland und Österreich als antisemitisch eingestuft. Wie steht Ruangrupa dazu?

Hartono: Niemand sonst stuft BDS so ein. Das sind nur Österreich und Deutschland aufgrund ihres historischen Hintergrunds. BDS ist nicht antisemitisch. Es ist eine Bewegung, die einen Staat und dessen Politik kritisiert, nicht die Rasse oder Religion. Zu sagen, dass jeder, der BDS unterstützt, ein Antisemit sei, ist nicht richtig. Und ein Boykott ist keine Infragestellung der Existenz Israels.

STANDARD: Sie wollen also einen allgemeinen Boykott für Künstler und Künstlerinnen aus Israel?

Hartono: Nein, ich habe viele jüdische Freunde, und es waren auch Künstler aus Israel in der Ausstellung. Es gab also nie einen Silent Boykott oder etwas in der Art. Aber wir haben die Künstler für die Documenta auch nicht nach ihrer Herkunft ausgewählt, sondern nach ihren Werten. Diese Documenta war nicht als politisch ausgewogene Ausstellung gedacht.

STANDARD: Im Sommer wurde ein wissenschaftliches Expertengremium beauftragt, die Ausstellung zu begutachten. Mitte September wurde dann ein Bericht veröffentlicht, der erneut viel Aufsehen erregte.

Hartono: Das Interessante war, dass nicht alle Mitglieder des Gremiums mit der Veröffentlichung des Berichts einverstanden waren. Sie übergaben ihn uns und versprachen, dass sie ihn nicht veröffentlichen würden. Sie sagten: "Ihr könnt ihn verwenden, wenn ihr wollt, oder auch nicht – das hängt von euch ab." Was dann geschah, war das Gegenteil: Sie veröffentlichten ihn ohne unsere Zustimmung.

STANDARD: In dem Bericht werden die propalästinensischen Propagandafilme "Tokyo Reels" des Kollektivs Subversive Film scharf kritisiert. Es wird ein Stopp gefordert, wenn man sie nicht richtig kontextualisiert. Warum haben Sie diesen Vorschlag abgelehnt?

Hartono: Weil es bereits eine Kontextualisierung des Werks gab. Sie befand sich nicht am Veranstaltungsort selbst, sondern war über einen QR-Code zugänglich. Einige der Experten sagten, dass es nicht mehr Informationen benötige.

STANDARD: Brauchen propalästinensische Propagandafilme nicht mehr Kontext als diesen?

Hartono: In der Ausstellung gab es eine Beschreibung des Projekts sowie des Filmarchivs. Es kommt darauf an, wie man Propagandafilme definiert. Bei dem Projekt handelt es sich um einen historischen Bericht, nicht um Dokumentation. Die Opfer haben ein Recht darauf, die Archive zu retten. Die Arbeit ist kritisch gegenüber dem Staat Israel, aber nicht antisemitisch. Wenn man einen Staat nicht kritisieren kann, darf man nichts mehr sagen.

STANDARD: Haben Sie das Gewicht der deutschen Vergangenheit unterschätzt?

Hartono: Wir haben es nicht unterschätzt. Aber wir haben eine Schwäche, denn wir sind mit dieser Geschichte nicht so verbunden wie die Menschen hier in Europa. Natürlich wissen wir über den Krieg und den Holocaust Bescheid. Da wir in Indonesien aufgewachsen sind, haben wir natürlich einen anderen Geschichtsunterricht erlebt. Dennoch: Wir sind schockiert über die Auswirkungen der Documenta. Deshalb haben wir uns auch entschuldigt.

STANDARD: Es gab mehrfach Forderungen, die Documenta zu schließen. Wollten Sie das auch an einem Punkt?

Hartono: Ja, aber wir haben darüber diskutiert und mit allen anderen Künstlern beschlossen, bis zum Ende zu bleiben. Aufzugeben wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass alle Anschuldigungen richtig waren. Aber das waren sie nicht. (Katharina Rustler, 12.10.2022)