Die Gelegenheit, Dinge zum Besseren zu verändern, war lange nicht mehr so groß, sagt Walter Osztovics von Kovar & Partners im Gastkommentar.

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Wenn jemand die Stimmung rund um diesen Jahreswechsel in einem einzigen Wort zusammenfassen müsste, würde ihm wahrscheinlich "Krisenmüdigkeit" einfallen. So viel ist in der jüngeren Vergangenheit aus dem Ruder gelaufen, dass wohl inzwischen alle erst einmal genug haben von Umbrüchen und Verwerfungen. Höchste Zeit, wieder ein neues, etwas dauerhafteres Normal zu errichten.

Aber dieses Neue könnte doch gleich von Anfang an viel besser sein als das Alte, das nicht mehr funktioniert. Tatsächlich hat die dichte Abfolge an Krisen eine Fülle von Möglichkeiten entstehen lassen, Dinge positiv zu verändern. Wir müssen diese Möglichkeiten nur konsequent nutzen.

Neuer Boom

Wie schnell etwas besser werden kann, wenn es zunächst aus dem Ruder läuft, zeigt sich am Energiemarkt. Die sprunghaft gestiegenen Kosten für Gas und Strom haben einen Boom bei Photovoltaik, Wärmepumpen und Windenergie ausgelöst, den noch vor einem Jahr niemand für möglich gehalten hätte. Die Energiewende hat sich enorm beschleunigt. Schon zeichnet sich ab, dass damit auch ein Technologieschub ausgelöst wird. Wind- und Sonnenenergie brauchen Speicher als Ergänzung, um die starken Schwankungen in der Produktion auszugleichen. Dort liegt gegenwärtig noch ihre Schwachstelle. Doch da hier ein lohnender Absatzmarkt lockt, wird in diesem bisher vernachlässigten Bereich inzwischen intensiv geforscht. Die Lithium-Ionen-Akkus könnten schon bald durch neue europäische Technologien abgelöst werden.

Der Wandel zu mehr Klimaschutz wird primär durch ökonomische Motive getrieben, es steckt aber noch mehr dahinter: Krisen erhöhen die Bereitschaft zu Innovationen. In normalen Zeiten lösen Veränderungen, auch positive, immer Widerstände aus. Doch wenn ohnehin klar ist, dass es nicht wie gewohnt weitergeht, haben es neue Ideen leichter.

Neue Netzwerke

Das gilt ganz besonders für einen Bereich, den man üblicherweise nicht mit disruptiven Neuerungen verbindet, nämlich das gesellschaftliche Miteinander. Soziale Innovationen haben zugenommen, sowohl als Antwort auf den Klimawandel als auch infolge der Covid-Pandemie. Ein weithin übersehenes Beispiel ist die Solidarische Landwirtschaft, die bereits von 60 bäuerlichen Betrieben praktiziert wird: Konsumentinnen und Konsumenten finanzieren gemeinsam mit Bäuerinnen und Bauern Anbau und Ernte. So entstehen kleinräumige, selbstorganisierte Strukturen ohne Zwischenhandel, mit minimalen Transportwegen, zum wechselseitigen Vorteil.

Einigermaßen groß sind inzwischen die Netzwerke für Nachbarschaftshilfe, die während der Pandemie starken – und dauerhaften – Zulauf von Freiwilligen erhielten. Sie beruhen auf Eigeninitiative, werden aber von den großen Hilfsorganisationen gefördert, wie das "Plaudernetz" der Caritas, das "Plaudertischerl" der Diakonie oder die "Plattform gegen Einsamkeit". In Wien leisten "Stadtmenschen" Hilfe bei alltäglichen Problemen, zum Beispiel bei Behördenwegen und beim Ausfüllen komplizierter Formulare.

Mehr Umverteilung

Apropos Hilfe: Die diversen Unterstützungsgelder der Regierung wurden zwar wegen mangelnder Treffsicherheit kritisiert, tatsächlich wirken sie aber deutlich progressiv. Zählt man noch die Tatsache hinzu, dass die aktuellen Lohnabschlüsse bei den unteren Einkommen durchwegs deutlich über der Inflationsrate liegen, so ergibt sich: Teuerung und Energieknappheit haben zu mehr Umverteilung geführt. Die Ungleichheit im Land wurde geringer.

"Zwei langjährige Konstanten der Politik werden auf den Kopf gestellt."

Bei den Einkommen könnte dieser Effekt mehr als nur vorübergehend sein, denn die jüngste in der langen Liste der Krisen, der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel, hat qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem kostbaren Gut werden lassen. Unternehmen, die offene Stellen besetzen wollen, dürfen künftig nicht knauserig sein. Und das nicht nur beim Geld, sondern auch bei der Gestaltung der Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Die Arbeitswelt der nahen Zukunft wird ohne Zweifel deutlich arbeitnehmerfreundlicher sein als in der Vergangenheit.

Gleichzeitig werden damit zwei langjährige Konstanten der Politik auf den Kopf gestellt. Noch vor kurzem schien die Arbeitslosigkeit eines der größten sozialen Probleme zu sein, die Parteiprogramme sind voll von Beschäftigungsinitiativen und Förderideen. Jetzt lautet die neue Herausforderung, in Qualifikation und geografische Mobilität zu investieren – Jobs gibt es genug.

Neue Dynamik

Zweitens aber erhält die Debatte um Migration eine neue Dynamik. Bei keinem anderen Thema klaffen rationale Interessen und emotionale Befindlichkeit des Landes so weit auseinander. Wie alle europäischen Länder würde Österreich zum Erhalt der Wertschöpfung und zur Finanzierung der Sozialkassen ein höheres Maß an Immigration benötigen. Und da sämtliche Nachbarländer unter ähnlichen demografischen Problemen leiden, wird schon bald ein Wettbewerb einsetzen. Kanada wirbt bereits aktiv um Einwanderinnen und Einwanderer, Deutschland will sich das kanadische Modell zum Vorbild für ein neues Einwanderungsgesetz nehmen.

Hier liegt vermutlich die größte Herausforderung für die Politik: Statt immer neue Ideen für die Abschreckung von Migrationswilligen und immer neue Hürden für die Integration zu erfinden, müssen Programme entwickelt werden, um Menschen ins Land zu holen und zu integrieren – und um in der Bevölkerung für die nötige Akzeptanz zu werben.

Neuer Anlauf

Wenn das nicht gelingt, droht dem Land der wirtschaftliche Abstieg. Immerhin aber ist die Ausgangslage für einen neuen Anlauf gerade günstig, denn genau wie beim Klimaschutz, beim gesellschaftlichen Zusammenhalt und bei der Gestaltung der Arbeitswelt sind die Dinge in Bewegung geraten. Schließlich möchte 2023 gern als Jahr der Chancen in die Geschichte eingehen. (Walter Osztovics, 5.1.2023)