Politikwissenschafterin Susan Stokes schreibt in ihrem Gastkommentar, dass man sich vor einer Strafverfolgung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump nicht scheuen sollte.

Brasilien hat nun seine eigene Version des Angriffs auf das US-Kapitol vom 6. Jänner 2021. Zwei Jahre und zwei Tage später stürmten Anhängerinnen und Anhänger des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast in Brasília und untermauerten damit Bolsonaros Ruf als "Trump der Tropen".

Anfang Jänner wiederholten sich die Bilder: der Aufstand in Brasília ...
Foto: ADRIANO MACHADO
... der Angriff auf das US-Kapitol in Washington 2021. Ex-Präsident Bolsonaro distanzierte sich allerdings, Trump dagegen nicht.
Foto: Reuters/STEPHANIE KEITH

Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem gescheiterten Aufstand in Brasilien und dem Angriff in den USA zeigt die vielen Parallelen zwischen Bolsonaro und Donald Trump. Beide sind rechtsextreme, antidemokratische Präsidenten mit nur einer Amtszeit, die während der Covid-19-Pandemie nur Desinformation und Angeberei boten. Beide hetzten gegen die Presse und stellten die Unabhängigkeit ihrer Justiz infrage. Beide behaupteten, dass nur massiver Betrug und manipulierte Wahlmaschinen ihre Wiederwahl verhindern könnten. Ihr Vermächtnis sind Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, die an der Integrität der Wahlen in ihren Ländern zweifeln, und Tausende, die ihre eigenen Hauptstädte geplündert und Polizisten in einem vergeblichen Versuch, die Demokratie zu stürzen, brutal behandelt haben.


Doch die subtilen Unterschiede zwischen den "post-presidencies" von Bolsonaro und Trump unterstreichen die Bedeutung der strafrechtlichen Verfolgung antidemokratischer ehemaliger Führer. Viele US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner befürchten, dass eine Anklage gegen Trump wegen Anstiftung zu einem Aufstand zu einer Dynamik führen würde, bei der jede nachfolgende Regierung die Gerichte einsetzt, um politische Rechnungen zu begleichen. Die Geschichte Brasiliens seit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1989 lässt jedoch anderes vermuten.

Keine Vergeltung

Fernando Collor, der erste demokratisch gewählte Präsident Brasiliens nach dem Ende des Militärregimes, trat 1992 zurück, nachdem er der Einflussnahme beschuldigt worden war. Er wurde dennoch angeklagt und damit von der erneuten Ausübung eines gewählten Amtes ausgeschlossen. Collor wurde später von den Vorwürfen freigesprochen und konnte für niedrigere Ämter kandidieren (und gewann).

Nachfolgende Präsidenten wurden angeklagt, und gegen einige von ihnen wurden gerichtliche Verfahren eingeleitet, doch Brasilien verfiel nicht in einen endlosen Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen. Fernando Henrique Cardoso, Collors Nachfolger, war ein häufiger Kritiker seines eigenen Nachfolgers (und derzeitigen Präsidenten), Luiz Inácio Lula da Silva. Doch Lulas Regierung nutzte das Justizsystem nicht, um Rechnungen zu begleichen. Lula selbst wurde der Korruption überführt und zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, bevor sein Urteil aufgehoben und er nach weniger als zwei Jahren Haft entlassen wurde. Lula hatte schließlich seine politischen Rechte wiedererlangt und kandidierte erneut, wobei er Bolsonaro schlug, aber die Gründe für seine Anklage waren nicht rein politisch oder unbegründet.

"Das letzte Kapitel von Bolsonaros Geschichte muss erst noch geschrieben werden. Aber wir sehen bereits Anzeichen dafür, dass ihn die Angst vor einer Anklage eingeschüchtert hat."

Bolsonaro selbst könnte im Zusammenhang mit einer Fake-News-Troll-Farm, die vom Präsidentenpalast aus operierte, sowie wegen der Verbreitung von Fehlinformationen über elektronische Wahlen angeklagt werden. Als Bolsonaros politische Partei beim Wahlgericht die Annullierung von Millionen von Stimmen beantragte, verhängte das Gericht eine Geldstrafe wegen des Versuchs, das elektronische Wahlsystem des Landes zu untergraben, und fror ihr Vermögen ein. Brasilianische Medien haben berichtet, dass Bolsonaro tatsächlich versucht, eine Gefängnisstrafe für sich und seine Familienmitglieder zu vermeiden, indem er anbietet, im Gegenzug für eine Amnestie die Angriffe auf die Demokratie einzustellen. Einige haben spekuliert, dass sein derzeitiger Aufenthalt in Florida ein Versuch ist, einer möglichen Anklage in seiner Heimat zu entgehen.

Bolsonaros juristische Bloßstellung könnte erklären, warum er plötzlich vom Trump-Drehbuch abwich. Trotz seiner Weigerung, die Präsidentschaftswahlen anzuerkennen, bestätigte sein Stabschef im November, dass es einen friedlichen Machtwechsel geben werde. Während Trump immer noch behauptet, Opfer eines massiven Wahlbetrugs zu sein, ist Bolsonaro still geworden. Und während Trump die Randalierer am 6. Jänner versammelte und ihre Aktionen weiterhin verteidigt, tauchte Bolsonaro aus seinem Refugium in der Nähe von Disney World auf, um die Gewalt dieser Woche in Brasília zu verurteilen.

Mahnende Beispiele

Venezuela ist ein Beispiel dafür, wie gefährlich es ist, Aufständische mit ihren Taten davonkommen zu lassen. Die Erfahrung des Landes zeigt, dass aufstrebende Diktatoren, wenn sie wieder auftauchen, dazu neigen, ermutigt zurückzukehren. 1992 führte Hugo Chávez zwei Staatsstreiche gegen die gewählte venezolanische Regierung an, die scheiterten. Chávez wurde vom damaligen Präsidenten Rafael Caldera vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, bevor er 1998 zum Präsidenten gewählt wurde. Anschließend leitete er die Zerstörung der venezolanischen Demokratie und den Zusammenbruch der Wirtschaft des Landes.

Ecuador ist ein weiteres mahnendes Beispiel. 2000 führte eine schwere Wirtschaftskrise zu Massenprotesten gegen den gewählten Präsidenten des Landes, Jamil Mahuad. Ein Oberst der Armee, Lucio Gutiérrez, sah tatenlos zu, wie die Demonstrierende den Nationalkongress stürmten. Die Proteste weiteten sich zu einem Putschversuch aus, der von Gutiérrez und anderen Militäroffizieren angeführt wurde. Gutiérrez wurde für diesen Putschversuch weder vor Militär- noch vor Zivilgerichten strafrechtlich belangt. 2002 kandidierte Gutiérrez für das Präsidentenamt und gewann. Die Verachtung für demokratische Institutionen, die er zuvor an den Tag gelegt hatte, wurde zum bestimmenden Merkmal seiner Präsidentschaft. Seine Amtszeit endete damit, dass er aus Ecuador floh, nachdem Brasilien ihm politisches Asyl angeboten hatte.

Das letzte Kapitel von Bolsonaros Geschichte muss erst noch geschrieben werden. Aber wir sehen bereits Anzeichen dafür, dass ihn die Angst vor einer Anklage eingeschüchtert hat. Die US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner sollten sich diese Lektion zu Herzen nehmen: Obwohl die Strafverfolgung ehemaliger Präsidenten Risiken birgt, könnten die Kosten dafür, dass Aufständische und Möchtegernautokraten sich der Verantwortung entziehen, zu hoch sein. (Susan Stokes, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 13.1.2023)