"Die ÖVP muss intensiv daran arbeiten, den Korruptionsverdacht loszuwerden", sagt Kommunikationsberaterin Heidi Glück im Gastkommentar. Aber das ist nicht der einzige Schwachpunkt, der der ehemaligen Pressechefin von Kanzler Wolfgang Schüssel einfällt.

Die ÖVP hat in ihrem Machtzentrum verloren. Damit ist nicht nur die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner angeschlagen, sondern auch Bundeskanzler Karl Nehammer.
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Sind 39,9 Prozent Drama oder demokratische Normalität wie in den meisten anderen westeuropäischen Ländern? Die Zeiten absoluter Mehrheiten sind vorbei. Auch für die VP Niederösterreich. Es gibt nichts zu beschönigen, unter die magische 40-Prozent-Marke zu fallen bedeutet Machtverlust, nicht nur im Bundesland, auch auf der bundespolitischen Ebene.

Die VP Niederösterreich wird sich in Zukunft mit SPÖ und FPÖ in der Landesregierung arrangieren müssen. Das wird zu deutlich mehr Kompromissen und Zugeständnissen in der künftigen Landespolitik führen und bedeutet auch, dass nicht mehr jeder Posten, der in diversen Gremien oder Beiräten vergeben werden kann, an die ÖVP geht. Das absurde Proporzsystem in der Landesregierung wird aber von den Freiheitlichen verlangen, dass sie nicht Oppositionspolitik von der Regierungsbank aus betreiben können. Warten wir ab, wie die Ablehnung gegenüber der Landeshauptfrau zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mutiert.

"Bei der Wahl zählt nicht die Bilanz."

Das allgemeine Stimmungstief und der Vertrauensverlust gegenüber der Regierung im Bund, insbesondere der ÖVP, die seit Monaten in einem Imagetief liegt, mag zum schlechten Abschneiden beigetragen haben. Die Sorgen wegen des Wohlstandsverlusts, die Teuerungen und der verpatzte Traum vom Eigenheim helfen der Opposition und nicht jenen an der Macht. Auch der Korruptions-U-Ausschuss, der ein monatelanges Trommelfeuer gegen die ÖVP ausgelöst hat, hat der Volkspartei in Niederösterreich massiv geschadet. Was aber vermutlich unterschätzt wurde: Bei der Wahl zählt nicht die Bilanz. Also nicht das, was in der Vergangenheit war und getan wurde. Da geht es um das Grundgefühl der Menschen, ihre Ängste, ihre Hoffnungen, und den Freiheitlichen gelingt es eindeutig besser als allen anderen, diese emotionale Lage aufzufangen.

Taktische Fehler

Die FPÖ saugt alles ab an Unzufriedenheit, an Ärgernissen (wie die Impfpflicht) und Versäumnissen. Sie ist die klassische Frustauffangpartei "gegen die da oben". Und wie Ende der 90er-Jahre unter Jörg Haider finden weder ÖVP noch SPÖ ein Gegenrezept. Das kann man auch mit noch so viel Geld nicht auffangen. Dazu kommen taktische Fehler wie beim Thema Asyl, bei dem es der ÖVP nicht gelingt, Erfolge auf den Tisch zu legen, weil die Gegenwehr nicht erst in Brüssel beginnt, sondern der Innenminister schon bei seinen "eigenen" schwarzen Landeshauptleuten auf Granit beißt. Die Aussage von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, so kurz vor der Wahl zu sagen, dass er die FPÖ nicht zur Kanzlerpartei machen wird, war vielleicht ehrlich, aber nicht hilfreich. Das könnte bei dem einen oder anderen einen "Jetzt erst recht"-Effekt bewirkt haben.

Welche Konsequenzen wird die Niederösterreich-Wahl für die Bundes-ÖVP und die Bundespolitik haben? Der ÖVP fehlt jetzt das Machtzentrum. Hanni Mikl-Leitner war bis Sonntag die wichtigste und mächtigste Politikerin im schwarzen Mikrokosmos. Niederösterreich stellt die meisten ÖVP-Regierungsmitglieder inklusive Bundeskanzler und Nationalratspräsident – die alle sind jetzt auch angeschlagen. Der ÖVP werden bei der Nationalratswahl die Stimmen aus dem wählermäßig größten Bundesland fehlen. Fatal ist, wenn sich die Niederlage auch bei der nächsten Landtagswahl in Kärnten fortsetzt.

"Schleunigst das Motto 'Das Beste aus beiden Welten' aufgeben."

Viele bürgerliche Mittelständler fühlen sich von einer ÖVP, die ihre Kernkompetenz Wirtschaft aufgegeben hat, nicht mehr ausreichend vertreten. Die ÖVP muss intensiv daran arbeiten, den Korruptionsverdacht loszuwerden, der sie wie ein schwerer Rucksack begleitet. Und sie braucht ein klares Profil, damit ihre Anhängerinnen und Anhänger wissen, wofür sie heute steht. Sie muss schleunigst das Motto "Das Beste aus beiden Welten" aufgeben und braucht auch zu den Themen der Grünen eigene Konzepte, wirtschaftsfreundlich, machbar.

Als jemand, der sich beruflich täglich mit Kommunikation auseinandersetzt, muss ich der ÖVP auch dringlichst raten, ihre eigenen Projekte besser in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Offensiv und verständlich. Es braucht einen Chef, der das Narrativ des Krisenmanagers besser sichtbar macht, sich souverän gegenüber Journalistinnen und Journalisten und Volk zu Wort meldet. Und: Die ÖVP muss endlich aus ihrer Opferrolle herausfinden. Sich nur von allen anderen verfolgt zu fühlen verstellt den Blick auf die Lösung, wie man aus der Negativspirale wieder herauskommt.

Für die unmittelbare Regierungsarbeit wird der Wahlausgang eher wenige Konsequenzen haben. Die Grünen haben ja schon vorsorglich Argumente für die ÖVP gefunden, klarerweise weil sie kein Interesse haben, dass die Koalition früher beendet wird.

Blauer Höhenflug

Aus der längerfristigen Sichtweise hat der Wahlsonntag in Niederösterreich einen nachhaltigen Trend bestätigt: Es gibt in Österreich eine strukturelle politische Nachfrage nach Fremdenfeindlichkeit, Europaskepsis, Impfverweigerung, Putin-Verständnis und Eliten-Bashing. Das sogenannte dritte Lager hat alles im Angebot, um diese Stimmung abzuholen und in Stimmen zu verwandeln. Diese im Grunde staatskritische Haltung hat offenbar ein Potenzial bis zu einem Drittel des Elektorats. Dankbar werden "einfache" Lösungen und wohlfeile Versprechungen angenommen. Vor allem dann, wenn die Regierenden Lösungskompetenz vermissen lassen.

"Rhetorisch darf man das Feld nicht allein Herbert Kickl überlassen."

Jetzt sind wir wieder einmal in der Phase blauer Höhenflüge. Sie wird befeuert durch objektive Faktoren wie die galoppierende Teuerung, steigende Asylzahlen, krisenhafte Entwicklungen im Gesundheits- und Pflegebereich, das Menetekel eines Krieges in Europa und vieles mehr. Die Behauptung der Populisten, die richtigen Rezepte dagegen zu haben, fällt auf fruchtbaren Boden. Oft handelt es sich um Scheinlösungen, aber von der Oppositionsbank aus ist es leichter, Besserwisser zu sein und der Regierung Versagen vorzuwerfen.

Zu seriöser Arbeit in der Koalition gibt es keine Alternative. Rhetorisch darf man das Feld nicht allein Herbert Kickl überlassen. Weniger Selbstbeschäftigung, mehr Fokus auf die Beweggründe für die Abkehr des Wahlvolkes und ehrliches, selbstkritisches Hinterfragen würde vermutlich helfen, die Kluft zwischen Innen- und Außensicht zu verringern. (Heidi Glück, 1.2.2023)