Im Gastkommentar fordert Misha Glenny, der Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, mehr Forschung im Bereich digitaler Humanismus. Österreich könne hier – wieder – eine Führungsrolle einnehmen.

Der große automatische Grammatisator tatsächlich Einzug in unser Leben gehalten.
Illsutration: Fatih Aydogdu

"Und Geschichten – nun ja, sie sind nur ein weiteres Produkt, wie Teppiche und Stühle, und es interessiert niemanden, wie man sie herstellt, solange man die Ware liefert. Wir werden sie im Großhandel verkaufen, Mr. Bohlen! Wir werden jeden Schriftsteller im Land unterbieten! Wir werden den Markt beherrschen!"

Als Jugendlicher in den 1970er-Jahren las ich zum ersten Mal Roald Dahls Erzählung The Great Automatic Grammatizator (1954) und fand es lächerlich, dass eine Maschine Kurzgeschichten und Romane im Stil irgendeines lebenden oder toten Schriftstellers wiedergeben konnte. Ihr Schöpfer und Held der Geschichte, Adolphe Knipe, verstand es, den Manuskripten ein unterschiedliches Maß an Leidenschaft, Erotik, Spannung und anderen Schreibstrategien einzuhauchen. Schon bald hatte Knipes Maschine, wie er seinem Chef Bohlen versprochen hatte, den Markt für Zeitschriften und Romane erobert. Das Schreiben als menschliche Tätigkeit war beendet. Die Leute wollten nur noch Geschichten lesen, die der Grammatisator geschrieben hatte.

Fast siebzig Jahre nach der Veröffentlichung von Dahls genialer Erzählung hat der große automatische Grammatisator tatsächlich Einzug in unser Leben gehalten. Er trägt den weniger extravaganten Namen Generative Pre-trained Transformer oder umgangssprachlich ChatGPT. Stellen Sie eine Frage, und Sie erhalten eine schlüssige und überzeugende Antwort.

Ein unterhaltsames Werkzeug

In der Tat haben Schulen in New York kürzlich die Nutzung von ChatGPT verboten, weil Schülerinnen und Schüler damit Aufsätze schreiben, die ihre eigenen Arbeiten oft bei weitem übertreffen. Cyberkriminelle experimentieren mit der Fähigkeit der künstlichen Intelligenz, um neue Malware zu schreiben – obwohl, um ehrlich zu sein, als ich ChatGPT um einen Erpressungstrojaner bat, lehnte es ab, so als hätte ich ein unmoralisches Angebot gemacht.

ChatGPT kann in einem Moment sagen, was Luther über Erasmus dachte, und im nächsten erklären, warum Testosteron und Cortisol Eifersucht zu einem so unangenehm starken Gefühl machen. Es ist ein sehr unterhaltsames Werkzeug. Aber es ist eine "Geschichtenmaschine" und keine "Wahrheitsmaschine". Zu den Schattenseiten der Nutzung habe ich die Maschine selbst interviewt:

Verzerrung der Wahrnehmung; Verbreitung von falschen Informationen; Verlust von Arbeitsplätzen (danke Roald Dahl); Veränderung der Kommunikation: ChatGPT kann dazu führen, dass Menschen sich weniger anstrengen, menschliche Interaktionen zu pflegen.

Nach der Aufzählung all der unheilvollen Auswirkungen auf den Menschen fügte ChatGPT kokett hinzu: "Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass ChatGPT und ähnliche Technologien auch viele Vorteile haben können, wenn sie sorgfältig und verantwortungsvoll eingesetzt werden." Hm ... die Maschine verlässt sich also darauf, dass wir uns gut verhalten – viel Glück dabei! Die erstaunlichen Fähigkeiten von ChatGPT bei der natürlichen Sprachverarbeitung (Natural Language Processing) sind umso verblüffender, wenn man bedenkt, dass das Programm keinen Zugang zum Internet hat. Es arbeitet mit riesigen Mengen an vorab eingegebenen Daten – daher die Bezeichnung "pre-trained".

Exponentielle Fähigkeiten

Die nächste Generation, GPT-4 und ähnliche Programme, werden über exponentielle Fähigkeiten verfügen, insbesondere wenn ihnen Zugang zum Internet gewährt wird. Aus diesem Grund werden viele Unternehmen, von Google über Wirtschaftsprüfer bis hin zu Anwaltskanzleien, nervös. Wer braucht schon die Suchmaschine von Google, wenn GPT-4 (oder Bing, Microsoft integriert ChatGPT ja in seine Suchmaschine) all das und noch mehr kann? Google hat sich bei der Implementierung von KI Zeit gelassen, mittlerweile werden die Ingenieurinnen und Ingenieure zu Überstunden aufgefordert, um diese Technologie zu integrieren.

Aber nicht nur Google sollte besorgt sein. Diese Technologie ist in ihrer Fähigkeit, die menschliche Wahrnehmung zu manipulieren oder zu lenken, potenziell so mächtig, dass sie der Beaufsichtigung bedarf.

"Im Zeitalter der Maschinen wird das, was uns menschlich macht, nämlich Freude, Mitgefühl und Liebe, die Menschheit retten." Mo Gawdat

Der ehemalige Google-Manager und ägyptische Zukunftsforscher Mo Gawdat vertritt die Ansicht, dass wir KI-Technologien wie ChatGPT so erziehen müssen, als wären sie unsere eigenen Kinder – sie bräuchten unsere moralische Führung. Die einzige Hoffnung für das menschliche Überleben, so Gawdat, bestehe darin, unsere delinquenten KI-Schöpfungen zu lieben und zu hoffen, dass sie uns auch lieben, weil wir ihre Eltern sind: "Im Zeitalter der Maschinen wird das, was uns menschlich macht, nämlich Freude, Mitgefühl und Liebe, die Menschheit retten."

In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue Philosophie herausgebildet, der digitale Humanismus, der nun an Universitäten und Institutionen in den Vereinigten Staaten, Europa und Asien erforscht wird. Im Jahr 2019 veröffentlichte eine Gruppe US-amerikanischer und europäischer Wissenschafterinnen und Wissenschafter unter der Leitung des emeritierten TU-Professors Hannes Werthner und des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), darunter einige der führenden Denkerinnen und Denker Amerikas, das Wiener Manifest zum digitalen Humanismus.

Digitaler Humanismus

In Wien, Graz, Linz und darüber hinaus gibt es in Österreich eine seltene Dichte an Naturwissenschafterinnen und Naturwissenschaftern, die in Zusammenarbeit mit der Geistes- und Sozialwissenschaft genau das fördern, was ChatGPT als eine Philosophie beschreibt, "die betont, Technologie zu nutzen, um menschliche Fähigkeiten und die menschliche Situation zu verbessern. Digitaler Humanismus betont auch die Wichtigkeit ethischer Überlegungen bei der Entwicklung und Nutzung von Technologie."

Mehr als ein Jahrhundert nachdem der Wiener Kreis das europäische Denken in der Synthese von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften anführte, bietet sich Österreich erneut die Chance, eine intellektuelle Führungsrolle in einer der drängendsten Fragen unserer Zeit zu übernehmen. (Misha Glenny, 11.2.2023)