"Ich habe kaum je einen vergleichbaren Angriff auf wissenschaftliche Expertise in Österreich erlebt", sagt der renommierte Onkologe Christoph Zielinski im Gastkommentar.

"Wir waren expertenhörig", findet Kanzler Nehammer und sorgt damit für Irritationen bei Expertinnen und Experten, die die Regierung in der Pandemie beraten haben.
Foto: Heribert Corn

Hörigkeit – was für ein düsterer, dramatischer Begriff. William Somerset Maugham hat ihn nicht von ungefähr als Schlüsselwort des Titels eines seiner großen Entwicklungsromane gewählt. Hörigkeit, so klärt uns Wikipedia auf, sei "die gefühlsmäßige Bindung an andere Menschen in einem Ausmaß, in dem die persönliche Freiheit und menschliche Würde aufgegeben werden". Hörigkeit könne finanzielle, aber auch sexuelle Komponenten haben.

Finanzielles und Sexuelles sind in diesem Fall wohl auszuschließen, wenngleich die Selbstbezichtigung von Bundeskanzler Karl Nehammer doch etwas überraschend kommt: "Wir waren expertenhörig, nun sollen Experten erklären, warum sie zu dieser Entscheidung gekommen sind." Will uns der Kanzler damit etwa sagen, dass er und sein Vorvorgänger Sebastian Kurz bei ihren Entscheidungen nach oben zitierter Definition "ihre persönliche Freiheit und menschliche Würde" aufgegeben hatten?

"Die Wissenschaftsleugnenden werden nun triumphieren."

Die Wahrheit ist banaler: Nehammer will wohl angesichts bescheidener Umfragedaten auch auf diesem Politikfeld im trüben Stimmenteich der die Wissenschaft immer wieder desavouierenden FPÖ fischen – selbst wenn es zulasten der Würde der universitären Expertinnen und Experten geht. Genau das ist das Ärgerliche an den Äußerungen des Bundeskanzlers: Denn gerade diese wurden nach ihren häufigen Auftritten in allen Medien, die sie großteils selbst nie gesucht haben, mit Drohbriefen und Mails zugeschüttet, wurden physisch bedroht und geschmäht.

Auf den Demonstrationen der sogenannten Maßnahmengegner wurden diese Fachleute ständig als Korruptionisten am Gängelband der Pharmaindustrie, von George Soros und Bill Gates verspottet. Die Wissenschaftsleugnenden werden nun triumphieren – der Bundeskanzler hat ihnen durch seine überspitzten Formulierungen nachträglich Legitimation verliehen.

Klare Regeln

Die nun auf diese Weise vorgeführten Expertinnen und Experten haben nichts anderes getan als nach klar definierten Regeln gewonnene und publizierte Erkenntnisse der Politik zur Verfügung zu stellen. Diese traf dann die Entscheidungen allzu oft nach eigenem Gutdünken und jeweiliger politischer Opportunität. Kurz sah schon im Spätsommer 2020 "Licht am Ende des Tunnels". Im Sommer 2021 ließ er sich auf einem Plakat als Seuchenbezwinger feiern: "Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft".

Doch bald danach begannen die Infektionszahlen stark zu steigen. Unternommen wurde dagegen wenig, weil im Herbst in Oberösterreich Landtagswahlen stattfanden und dort eine Impfgegnerpartei kandidierte. Expertinnen und Experten hatten bereits im Sommer vor diesen explosiv steigenden, die Spitäler überlastenden Krankheitsfällen gewarnt. Gehör fanden sie damals keines, so weit ging die "Hörigkeit" der Politik offenbar nicht.

Gravierende Mängel

Wenig später, im November 2021, befand Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer: "Die Virologen würden die Menschen am liebsten daheim einsperren, damit sich niemand infiziert." Abgerundet wird dies alles durch den Befund von Innenminister Gerhard Karner vom vergangenen August: "Die Empirie, die Wissenschaft ist das eine, die Fakten sind das andere."

Aufarbeiten könnte man tatsächlich einiges, und damit kommen wir zum Kern der Sache: Die Arbeit der Expertinnen und Experten, aber auch der Medizinerinnen und Mediziner in den Spitälern wurde durch gravierende Mängel im System behindert. In Österreich fehlen etwa entsprechende Datenbanken, mit deren Hilfe die Wirkung von medizinischen Interventionen durch die Verknüpfung von Gesundheitsdaten analysiert werden kann.

"Wer soll sich hier mit wem versöhnen? Etwa die Verteidigerinnen und Verteidiger wissenschaftlich generierter Evidenz mit deren Leugnerinnen und Leugnern?"

Dies ist ein seit Jahren verschlepptes Versäumnis, das sich andere Länder nicht geleistet haben. Die Pandemie hat damit jahrelang bestehende Defizite offengelegt. Anlass zum Handeln hätte es gegeben: Gates hat bereits 2015 in einem Artikel im höchst renommierten New England Journal of Medicine nach einer Ebola-Welle in Afrika gemutmaßt, dass die Gefahr einer Epidemie oder Pandemie von gewaltiger Dimension in absehbarer Zeit wahrscheinlich sei. Defizite in der Bekämpfung einer solchen Pandemie würden in ein "globales Desaster" münden. Die Bill and Melinda Gates Foundation ist übrigens einer der größten Financiers der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Zurück nach Österreich: Wer soll sich hier mit wem versöhnen? Etwa die Verteidigerinnen und Verteidiger wissenschaftlich generierter Evidenz mit deren Leugnerinnen und Leugnern? Sollte Herr Nehammer mit seinen Äußerungen die ihm zur Seite gestanden habenden universitären Expertinnen und Experten gemeint haben, so habe ich während meines nun doch schon längeren Berufslebens kaum je einen vergleichbaren Angriff auf wissenschaftliche Expertise in Österreich erlebt, auch wenn die Absicht einer "Versöhnung" dahinter gestanden sein könnte.

"Dann machen wir einen Schritt zur Bananenrepublik."

Zu einem ähnlichen Schluss kam der Komplexitätsforscher Peter Klimek im November 2021 in einem ZiB 2-Interview: "Wenn dieses wissenschaftsfeindliche Klima weiter um sich greift, dann machen wir einen Schritt zur Bananenrepublik." Eineinhalb Jahre später sind wir offenbar im Begriff diesen Schritt zu tun. (Christoph Zielinski, 22.2.2023)