Ökonomin Lea Steininger bedauert in ihrem Gastkommentar, dass Österreich noch immer an der Inflationsthese festhält. Andere Staaten hätten längst umgedacht.

Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein nannte sie "Scharnierthesen" (oder auf Englisch "hinge propositions"): jene Thesen, die man nie hinterfragt, weil sich ein gesamtes Theoriegerüst auf sie stützt, das sonst zusammenstürzen würde. Scharnierthesen verhalten sich also zu Theoriegerüsten wie Scharniere zu einer Tür: Sie sind unbemerkt immer da, halten die ganze Tür, um sie auf- und zumachen zu können. Nur wenn sie kaputt sind, funktioniert die Tür nicht mehr. Wir alle haben notwendigerweise einen ganzen Haufen solcher Scharnierthesen, und die meisten Unterschiede in Weltbildern könnten wohl anhand von ihnen erklärt werden.

Geld gut festhalten, lautet derzeit die Devise angesichts der Teuerung. Steuert der Staat richtig gegen?
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Das innewohnende Problem nur: Man spricht eben wenig über sie. Es ist gewissermaßen unangenehm, Scharnierthesen zu konfrontieren, vor allem wenn man sich pudelwohl in den eigenen Theoriegerüsten fühlt oder gar Angst hat, sich auf etwas Neues einzulassen. Eine alte Theorie zu verabschieden bedeutet immer auch ein Lebwohl. Auf Englisch gibt es sogar das abwertende Prädikat "unhinged" – jemand ist ausgeha(n)gelt, verrückt sozusagen. Durchgeknallt. Anders gesagt: hat andere Scharnierthesen. Diese Intoleranz gegenüber dem Hinterfragen von Scharnierthesen äußert sich drastisch – zuungunsten aller – im Diskurs um das Phänomen der "Inflation" oder besser gesagt, der zugrunde liegenden Geldtheorie.

Weniger Kaufkraft

Wie der Name schon suggeriert, handelt es sich bei Inflation um "Aufgeblähtheit" (vom englischen "inflated"), um eine Entkopplung des Geldwerts (oder Preises) von einem sogenannten fundamentalen Wert. "Zu viel Geld für zu wenige Güter", also Geld verliert seine Kaufkraft und wird weniger wert. Das allgemeine Preisniveau steigt. Das ist die Definition von Inflation und wovor uns allen seit Monaten angst und bange ist, die aber selbst für Zentralbanken Fragen aufwirft. Das ist auch ein rein theoretisches Konzept, das auf der Annahme (Scharnierthese!) basiert, dass Geld primär ein Tauschmittel ist, das den Wert von Gütern und Dienstleistungen nur abbildet.

Dabei kann Geld weit mehr als das, wie die Geldtheoretikerin Christine Desan von der Harvard-Universität gezeigt hat: Geld koordiniert Arbeit und gesellschaftliche Reproduktion; Geld schafft selbst den Marktwert, den es misst. Geld ist – wie das Gesetz – ein öffentlich-rechtliches Instrumentarium, um zu steuern und zu regieren. Das ist die Scharnierthese für Preisstabilität, auf die wir uns neu einlassen müssen.

"Die spanischen und französischen Regierungen arbeiten schon mit der neuen Scharnierthese, während unsere sich noch auf Geldentwertung herausredet."

Diese Scharnierthese impliziert, dass der Wert des Geldes weniger "am Markt" oder in einem allgemeinen Preisniveau zu finden ist als in politischen Institutionen und Regierungsentscheidungen. Preise in bestimmten Bereichen (oder Märkten) entwickeln sich unterschiedlich und mit unterschiedlichen Ursachen, die maßgeschneiderte Lösungen brauchen. Mit unserer neuen Scharnierthese ausgestattet, können wir daher ein ganz anderes Theoriegerüst aufbauen: Was wir hier beobachten in Österreich, in der Eurozone im März 2023 insgesamt, ist etwas anderes als "Inflation". Wir befinden uns mitten in einer Energiekrise, und in einer Wohnkostenkrise, die auch in Zusammenhang mit der Klimakrise stehen. Die dabei wichtige Erkenntnis ist, dass Mittel jenseits von Sparpolitik und Zinserhöhungen notwendig sind, um diese Krisen zu bekämpfen.

Preisstabilität ist eine Frage von Preissetzung und gesellschaftlich-politischen Prioritäten. Wenn Grundbedürfnisse in Österreich teurer werden, ist das nicht nur hausgemacht, es ist – wie Wittgenstein es vielleicht nennen würde – kontingent, also voller Alternativen; denn Preissetzung entsteht durch die Entscheidungen politischer und wirtschaftlicher Akteurinnen und Akteure und ist keineswegs eine inflationäre Welle, die uns überrollt wie eine Naturkatastrophe.

Wenn also Mieten steigen, verdienen Vermieterinnen und Vermieter einfach mehr an der Vermietung, und Mieterinnen und Mieter geben einen höheren Anteil ihres Einkommens für Wohnen aus. Das ist keine Geldentwertung. Dass fossile Energie teurer geworden ist, liegt vor allem an den Rekordgewinnen der Erdölkonzerne, die ihre Gewinnmargen erhöht haben. Wenn Lebensmittelpreise steigen, liegt das vor allem an den erhöhten Kosten für Energie und Lagerung sowie Gewinnmargenerhöhungen im Windschatten des Verbraucherpreisindex. Wieder keine Geldentwertung. Die spanischen und französischen Regierungen arbeiten schon mit der neuen Scharnierthese, während unsere sich noch auf Geldentwertung herausredet.

Viele Möglichkeiten

Um die Energiekrise zu adressieren, können wir aber Gott sei Dank viel tun: auf nachhaltige Energieträger umsteigen, öffentliche Verkehrsnetze ausbauen und gratis machen, endlich damit aufhören, fossile Energie im großen Stil zu subventionieren, den Erdölkonzernen perverse Rekordgewinne streitig machen (Gewinnmargenbesteuerung), Preisdeckel und Strompreisbremsen.

Um die Wohnkostenkrise zu adressieren, können wir ebenfalls viel tun: Mietzinsobergrenzen durchsetzen, mehr Gemeindebauten und Genossenschaften errichten, Mieterhöhungen unterbinden, die Kopplung der Mieterhöhungen an den (jetzt wohl schon weniger aussagekräftigen) Verbraucherpreisindex absagen.

Um die Klimakrise zu bekämpfen, werden sich viele Preise (und damit Prioritäten) ändern müssen – ein neuer theoretischer Ansatz zum Thema Preisstabilität kann uns helfen, die Tür der "Inflation" zu schließen und der Komplexität von Preissetzungspolitik in der Ökonomie des 21. Jahrhunderts auf eine gehaltvolle Art und Weise zu begegnen.

Eine gute Theorie kann also befreiend wirken, wenn die Maßnahmen zur Diagnose passen und man nicht mehr so tief im metaphysischen Sumpf der Erkenntnis herumwühlen muss. Neue Scharnierthesen können also durchaus auch ihre Vorteile haben, weil eine neue Tür sich öffnet. Ein bisschen mehr Mut zu "unhingedness" ist dafür notwendig. (Lea Steininger, 12.3.2023)