Wie er sich fühlen mag an diesem Samstag? Zu wünschen wäre dem erstaunlich fitten, aber eben doch schon 74-jährigen Mann nach angenehmer Nachtruhe ein frischer Morgen und möglichst wenig von jenen Rückenschmerzen, die ihn seit Jahrzehnten immer wieder quälen. Auch ohne Warnzeichen seines alternden Körpers wird dies ein langer, anstrengender Tag für Charles Philip Arthur George Windsor sein, dessen Krönung sie feiern. Die Mehrheit der Briten wird das tun, und mit ihnen viele Bürger von 14 anderen Staaten rund um die Welt, deren Staatsoberhaupt der Monarch des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland bis heute ist.

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DER STANDARD

Viele Millionen Menschen rund um die Welt werden zudem ein Spektakel im Fernsehen verfolgen, wie es in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts nur noch dieses Königshaus zu bieten hat: das Defilee tausender Soldaten Großbritanniens sowie aus vielen der insgesamt 56 Staaten, die zum englischsprachigen Commonwealth gehören; die prächtige Kutschfahrt vom Buckingham-Palast zur Westminster Abbey; der Gottesdienst mit feierlicher Salbung durch den anglikanischen Erzbischof von Canterbury, der seinem König schließlich auch die Krone aufsetzt.

Der längstdienende Thronfolger Großbritanniens wird am Samstag gekrönt.
Foto: APA/AFP/POOL/TOBY MELVILLE

Verbreitete Skepsis

"Von Gottes Gnaden" sei dieser König, steht bis heute auf jeder britischen Münze. Doch so wie das Bargeld kaum noch Anwendung findet, greift auf der Insel auch die Skepsis gegenüber allem Religiösen um sich. Niemand weiß das besser als Charles III., der sich als spirituell Suchender begreift und die Welt in seiner langen Amtszeit als Thronfolger auch häufig daran teilhaben ließ. So jemand gerate schnell in den Verdacht, "ein bisschen gaga zu sein", vermutet Nick Baines, der Bischof von Leeds.

Nicht etwa, dass der Kirchenmann seinen König für verrückt erklären will, im Gegenteil: "Er dachte früher als andere darüber nach, wie es sein würde, in einer pluralistischen, multikulturellen Gesellschaft zu leben." Und so treten im anglikanischen Gottesdienst auch Vertreter von Judentum, Islam und Buddhismus ins Rampenlicht, wirken viele Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten bei der Feier mit. Nicht zuletzt wird der gläubige Hindu Rishi Sunak die biblische Epistel verlesen.

Respekt erarbeitet

Den Medien und auch vielen Briten diente der sperrige, von intellektueller Unruhe getriebene Prinz lange Jahrzehnte hindurch als Watschenmann. Im Kontrast zur unantastbaren, undurchschaubaren Queen legte Charles seine Leidenschaften offen, musste sich belächeln lassen als versponnener, esoterischer Umweltschützer und Warner vor dem Klimawandel, als Workaholic mit unstillbarem Drang zur Weltverbesserung. "Er spürt den Zwang, etwas zu bewirken", resümiert seine Biografin Catherine Mayer.

Royal-Fans bereits am Freitag auf der Krönungsroute in London.
Foto: AP Photo/Alessandra Tarantino

Das hat dem Repräsentanten einer aus der Zeit gefallenen Institution Respekt eingebracht, ihn zuletzt sogar richtig modern aussehen lassen. Eine Verschlankung des Königshauses hat er bereits vor seinem Amtsantritt angekündigt, manch direkter Nachkomme wird gar einen Beruf ergreifen müssen. Die Bilanz der ersten Amtsmonate seit dem Tod der Queen im September fällt positiv aus. Schweigend nahm der weltweit bekannte Klimaschützer zur Kenntnis, dass die Premiers Truss und Sunak ihn nicht zum UN-Klimagipfel COP nach Ägypten fahren lassen wollten. Wie von der Regierung gewünscht, reiste er im März auf den Kontinent und entzückte die Deutschen mit wohlgesetzten Reden und charmanter Freundlichkeit. Höflich lehnte Charles den Plan des Großflughafens Heathrow ab, Terminal 5 nach ihm zu benennen.

Eisernes Schweigen

Vor allem wahrten der König und seine nächsten Angehörigen in bester Queen-Manier eisernes Schweigen angesichts der schmutzigen Wäsche, die Prinz Harry in seinem Memoirenband Reserve vor aller Welt ausbreitete. Mag die Chance auf eine Versöhnung in weiter Ferne liegen – immerhin wird Harry dabei sein am Samstag, wenn auch ohne seine Frau Meghan und die Kinder.

Harry und Meghan bei der Beerdigung der Queen vergangenes Jahr – bei der Krönung am Samstag wird Harry ohne Meghan erwartet.
Foto: Nariman El-Mofty/Pool via REUTERS

Gewiss wird seine Anwesenheit des Königs Herz so erfreuen, wie ihn andererseits die Teilnahme umstrittener Personen belastet. Dazu gehört sein Bruder Andrew, dem die Freundschaft mit verurteilten Sexualverbrechern anhängt, ebenso wie Chinas Vizepräsident Han Zheng als Vertreter der kommunistischen Diktatur, die Charles einst von "grässlichen alten Wachsfiguren" geleitet sah. Delikat bleibt auch der Dialog mit Regierungschefs wie Australiens Anthony Albanese, die offen der Abkehr ihrer Heimatländer von der früheren Kolonialmacht das Wort reden. Die Krönung komme eben "zu einem Zeitpunkt, zu dem so intensiv über das Empire und die Folgen diskutiert wird wie nie zuvor", sagt Autor Matthew Parker, der jahrelang zu der Geschichte der britischen Monarchie recherchiert hat. Vor fast 100 Jahren wurde ein Viertel der globalen Landmasse von London aus verwaltet. Wenig später begannen die Emanzipation der Kolonien und ihre Neuordnung im Commonwealth.

Republikbestrebungen

Wenn nicht alles täuscht, stehen diesem Klub im kommenden Jahr Turbulenzen ins Haus. Vor allem, wenn es um die Aufarbeitung der finsteren Seiten britischer Vergangenheit geht sowie die republikanischen Bewegungen in einigen der 14 Commonwealth-Staaten, deren Staatsoberhaupt Charles bisher noch ist. Wäre es schlimm, wenn in nächster Zeit Jamaika oder Australien die Monarchie hinter sich ließen? Nicht furchtbar schlimm, heißt es dazu tapfer im Palast. "Aber natürlich käme es einem Schlag in die Magengrube gleich", analysiert der Londoner Commonwealth-Spezialist Professor Philip Murphy. Premier Andrew Holness hat den Wählern auf Jamaika versprochen, was seine barbadische Labour-Kollegin Mia Mottley am Ost-Ende der Karibik bereits erreicht hat: die Loslösung von London. Im Beisein des damaligen Thronfolgers Charles feierte Barbados im November 2021 die Umwandlung zur Republik.

Barbados ist seit 2021 eine Republik, Charles hat als Thronfolger an der Zeremonie teilgenommen.
Foto: REUTERS/Toby Melville

Dort wie anderswo in der Karibik und Afrika, aber auch auf der britischen Insel werden die Fragen nach der blutigen Vergangenheit des Empire immer lauter. Im Sklavenhandel des 17. und 18. Jahrhunderts spielte die aufstrebende Seemacht England und später Großbritannien dabei eine Schlüsselrolle.

Millionen verschleppt, entrechtet, getötet

Geschützt durch die Royal Navy erlangte die 1660 von König Charles II. mitgegründete Royal Africa Company exklusive Rechte im Dreieckshandel zwischen England, Afrika und Amerika. Schätzungen sprechen von elf Millionen Menschen, die verschleppt und als Entrechtete über den Ozean gebracht wurden; viele weitere Millionen starben in Afrika oder auf der Reise. Das kaum vorstellbare Unrecht dauerte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.

Seit Jahren verfolgen 15 Länder der Karibischen Gemeinschaft (Caricom) Milliarden-Ansprüche gegen die früheren Kolonialmächte, darunter auch Großbritannien. Die Rede ist von Schuldenerlass, mehr Entwicklungshilfe sowie Ausbildung für Lehrer und Ärzte.

Premier Sunak hat erst kürzlich jeden Gedanken an Sklaverei-Reparationen von sich gewiesen. Auch der Rückgabe von Kulturgütern an ihre Herkunftsorte steht die konservative Regierung ablehnend gegenüber. "Wir wollen unsere Geschichte verstehen und uns nicht davor verstecken", sagte der Regierungschef im Unterhaus. Die Labour-Opposition positioniert sich ähnlich: Die "schreckliche Geschichte des Sklavenhandels" müsse aufgearbeitet werden, von Reparationen könne keine Rede sein. (Sebastian Borger aus London, 6.5.2023)