Bei der Verabschiedung wird Christian Deutsch plötzlich doch noch richtig euphorisch. "Mit 80 km/h sausen die Sackeln bei Unterdruck unter der Anlage durch direkt ins Altstoffzentrum", ruft er begeistert und wirft seinen Arm durch die Luft, um die Müllentsorgung nachzustellen. Er spricht von "Alterlaa", seiner alten Liebe. Es war 1986, Block C, Stock 17, Wien-Liesing. Christian Deutsch bezieht damals eine Wohnung in einer der bekanntesten sozialen Wohnhausanlagen der Hauptstadt. 23 schöne Jahre wird er in Alterlaa leben – und dort seine politische Heimat finden.

Der Wohnpark Alterlaa, das ist eine Stadt in der Stadt. Er besteht aus gigantischen Wohntürmen mit Pools auf dem Dach, es gibt dort Parks, Kindergärten, ein Einkaufszentrum – und eben ein unterirdisches Müllleitsystem. Deutsch wollte eigentlich für immer dortbleiben. Wäre ihm nicht eine andere Liebe dazwischengekommen: seine Lebensgefährtin, die nicht an den Stadtrand ziehen wollte. So verließ Christian Deutsch sein Liesing, aber Liesing verließ ihn nie.

Nicht alle folgen sofort dem Kommando von Christian Deutsch: Sein Goldendoodle Bobo wollte nicht recht in die Kamera schauen.
Foto: Heribert Corn

Heute liegt sein Büro im dritten Stock der traditionsreichen Parteizentrale in der Wiener Löwelstraße: Rote Sitzmöbel, an der Wand hängen eine Bezirkskarte von Liesing und ein Foto von Pamela Rendi-Wagner mit roten Altkanzlern. Seit bald vier Jahren führt Deutsch nun die Geschäfte der SPÖ. Er ist Bundesgeschäftsführer, Parteimanager und inzwischen einer der engsten Vertrauten der angeschlagenen Parteichefin. Für viele seiner Genossinnen und Genossen wurde er aber auch zum Gesicht des Problems: Vielen gilt er als Sinnbild des roten Apparatschiks und als soldatischer Wegbereiter der "Liesinger Partie".

Freundschaft? Seilschaft?

Die "Liesinger" der SPÖ, das sind die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures, Ex-Kanzler Werner Faymann, Deutsch – Wiens Bürgermeister Michael Ludwig wird ebenso als Teil dieser Truppe betrachtet, auch wenn er gar nicht aus Liesing kommt. Die "Liesinger Partie", das sind eben alte Freunde und politisch Vertraute, die in der Partei gemeinsam aufgestiegen sind, sagen die einen. Für andere Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht "Liesing" für eine Art Seilschaft, für einen "elitären Machtzirkel", in dem man sich gegenseitig mit gutbezahlten Jobs versorgt und gemeinsam um den Machterhalt kämpft. Aktuell heißt das: gegen Hans Peter Doskozil, gegen Andreas Babler.

Christian Deutsch sei jemand, der für seine Clique, ohne zu zögern, "den Butterfly" heraushole, wie ein langjähriger Weggefährte von Deutsch erzählt. Mit "Butterfly" meint er das Messer, im übertragenen Sinne natürlich. Sagen will der SPÖ-Funktionär damit: Deutsch habe kein Problem, unliebsame Genossen aus dem Weg zu räumen.

In Deutschs Büro stechen zwei Bilder sofort ins Auge: ein Grundriss von Liesing und ein Foto, das Parteichefin Pamela Rendi-Wagner mit allen noch lebenden roten Ex-Kanzlern zeigt. Auch Christian Kern ist darauf zu sehen. Der ist mittlerweile ins burgenländische Lager von Hans Peter Doskozil übergelaufen.
Foto: Heribert Corn

Viele, selbst jene, die Rendi-Wagner schätzen, befinden: Deutsch müsse weg. Aber Deutsch denkt gar nicht daran, zu weichen. Kritik zu ertragen hält er für einen Teil seines Jobprofils. Er hat einen Auftrag zu erfüllen: Rendi-Wagner auf Platz eins durch die laufende rote Mitgliederbefragung zu führen. Das Prozedere gut abzuwickeln. In der SPÖ war er schon immer der Mann fürs Grobe.

Deutsch wird 1962 in Linz geboren. Seine Familie ist sozialdemokratisch geprägt. Politisch sozialisiert wird Deutsch in den 1970er-Jahren durch die Demonstrationen gegen das geplante Atomkraftwerk in Zwentendorf. Zur SPÖ kommt er über Rosa Jochmann. Die einstige Widerstandskämpferin und sozialdemokratische Ikone trifft Deutsch in seiner Jugend regelmäßig im Linzer Bahnhofscafé und spricht mit ihr über die Partei und die Welt. Mit 18 Jahren tritt er der Sozialistischen Jugend bei, der roten Nachwuchsorganisation.

Genosse zum Rapport

Deutsch, das sagt jeder, der damals dabei war, tut sich schon in der Parteijugend als akribischer Organisator hervor. Er bringt Struktur in eine ansonsten chaotische Truppe, Pünktlichkeit ist plötzlich Pflicht.

Er ist ein kontrollierter Mann – schon in jungen Jahren. Die Partys der jungen Roten interessieren ihn wenig. Nie habe er auch nur ein Bier zu viel genommen. Inzwischen trinkt Deutsch seit einigen Jahren gar keinen Alkohol mehr – damit ist er in der österreichischen Politik eher die Ausnahme.

Als Wiener Landessekretär der Sozialistischen Jugend bestellt er einen seiner Genossen zum Rapport, weil der seinen Budgetposten um einen Schilling und 27 Groschen überzogen hat. Wer sich verspricht, wird von Deutsch korrigiert. Er berichtigt auch gerne halbrichtige Marx-Zitate, was ihm in der roten Jugend den Namen "Genosse Deutschlov" einbrockt. Es ist despektierlich gemeint.

Jetzt sitzt Deutsch am Besprechungstisch seines Büros, er wirkt entspannt, lächelt viel. Er habe eine dicke Haut. Heute ist er 61 Jahre alt. Er hat bereits unter Faymann gearbeitet, er hat schon dem damaligen Bürgermeister Michael Häupl gedient – auch wenn ihn der schließlich fallenließ. "Ich war immer dann zur Stelle, wenn ich gebraucht wurde", sagt Deutsch. Er trägt ein beige-graues Poloshirt, Anzughose, unter dem Tisch liegt sein Goldendoodle Bobo. Deutsch gilt als nachtragend, aber wenig zimperlich.

Beim Maiaufmarsch vor einigen Tagen protestierte die rote Jugend mit einem Transparent gegen ihn: "Keine Deutschpflicht in Schulen und in der Löwelstraße", stand darauf. Auch das nimmt er gelassen. Als Bundesgeschäftsführer bekomme man eben Unmut ab. "Jetzt ist sowieso nicht die Zeit, um in einen Beliebtheitswettbewerb einzutreten", sagt er.

Deutsch sei immer überzeugt von dem, was er macht, erzählen Weggefährten über ihn. "Er tut sich aber schwer, eingeschlagene Pfade zu verlassen. Wenn er etwas richtig findet, geht er seinen Weg bis zum bitteren Ende, ohne abzuweichen", erzählt ein langjähriger Freund. "Kritikfähig ist er da nicht. Dann kommt er eher mit dem Holzhammer."

Gewissenhaft und erbarmungslos

Gerade in seinem Heimatbezirk wird Deutsch von vielen geschätzt. Er nehme sich Zeit für Anliegen, sei gewissenhaft und halte sein Wort, ist aus der SPÖ-Liesing zu hören. Dort ist er weiterhin stellvertretender Bezirksvorsitzender – unter Doris Bures.

Er gilt aber auch als erbarmungslos, wenn es aus seiner Sicht sein muss. In der SPÖ amüsiert man sich darüber, dass er sich heute über die Querschüsse von Burgenlands Landeschef Hans Peter Doskozil gegen Rendi-Wagner echauffiert und bedingungslose Loyalität einfordert. Denn früher galt er selbst als einer der großen Quertreiber in der Partei.

"Jetzt wie damals waren Heckenschützen unterwegs. Ich war nie so feig und habe Kritik immer offen vorgebracht", sagt Christian Deutsch, den viele in der Partei als Quertreiber sehen.
Foto: Heribert Corn

Als Christian Kern noch Parteichef war, richtete ihm Deutsch via Twitter aus, dass es an der Zeit sei, die SPÖ wieder so erfolgreich an die Spitze zu führen wie einst Kanzler Faymann. Kern war in der "Liesinger Partie" nie besonders gut angeschrieben – er war dem Liesinger Faymann nachgefolgt, nachdem der von seiner Partei aus dem Amt gepfiffen wurde. Kern schmiss als Oppositionsführer dann bald entnervt alles hin. Deutsch sieht sich im Recht, wenn man ihn heute auf sein Gestänker von einst anspricht: "Jetzt wie damals waren Heckenschützen unterwegs. Ich war wenigstens nie so feig und habe Kritik immer offen vorgebracht", sagt er.

Als Rendi-Wagner Deutsch zum Bundesgeschäftsführer befördert, erleidet die Beziehung zwischen ihr und Kern einen ersten tiefen Bruch. Die wahre Förderin von Deutsch heißt aber Doris Bures. Für Deutsch wurde ein Job gesucht, nachdem er nicht Gesundheitsstadtrat in Wien geworden war – das Amt soll Deutsch eigentlich angestrebt haben, nachdem er 2018 tatkräftig mitgeholfen hatte, Ludwig an die Spitze der Wiener SPÖ zu hieven. Deutschs teils brachiale Art habe es aber unmöglich gemacht, ihn in der damals zerrütteten Landespartei aufsteigen zu lassen.

Deutschs aktueller Job wird sich bald verändern – egal, wie es kommt. Sollte Rendi-Wagner die rote Abstimmung gewinnen, hat sie bereits angekündigt, ihm eine zweite Person an die Seite zu stellen – um Deutschs Kritikern Wind aus den Segeln zu nehmen. Übernehmen Doskozil oder Andreas Babler die Partei, würde Deutsch abgesetzt, das weiß er auch selbst. "Politische Funktionen sind eine Leihgabe auf Zeit", sagt er.

Für die SPÖ werde er jedenfalls auch in Zukunft kämpfen – ein Parteiaustritt komme für ihn nicht infrage. Sollte Rendi-Wagner nicht gewinnen, findet man ihn wohl oft wieder dort, wo er ohnehin am liebsten ist: in Liesing. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 7.5.2023)