Die ukrainische Sängerin Alyosha performte mit der britischen Sängerin Rebecca Ferguson während des Votings des ersten ESC-Semifinales in Liverpool.
Foto: EPA / Adam Vaughan

Kiew – Sollte es am Tag der Austragung wieder Luftalarm geben, müsse die Belegschaft in den Schutzkeller, wo sich ein kleineres Fernsehstudio befindet, erklärt Albert Tsukrenko, der Showrunner des Eurovision-Programms bei Suspilne, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Ukraine. Er lehnt lässig an einer Fensterbank im Gang vor dem Studio, die Hände in den Hosentaschen. "Es kann sein, dass wir die ganze Sendung dort machen, aber in letzter Zeit fanden die Angriffe meistens früh am Morgen statt, also hoffen wir, dass es so bleibt."

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DER STANDARD

Immer wieder hasten Techniker an ihm vorbei oder bleiben kurz stehen, um an ihrer elektronischen Zigarette zu rauchen. Im Sender laufen die letzten Vorbereitungen für den Programmabend, an dem Interviews mit Teilnehmern und Fans des Eurovision Song Contest, Reportagen und Analysen gezeigt werden. Eurovision vorher, nachher und so ausführlich wie möglich, mit Liveschaltung nach Liverpool, jener Stadt, die die Veranstaltung für die Ukraine austrägt.

2023 vertritt das Duo Tvorchi den Vorjahressieger Ukraine beim ESC mit dem Electro-Song "Heart of Steel".
Eurovision Song Contest

Symbolischer Austragungsort

Dabei ist Großbritannien ein symbolischer Austragungsort: Das Land zählt zu den größten Unterstützern der Ukraine und zeigte das in der Vergangenheit nicht nur in Form von Waffenlieferungen, sondern auch in der Person von Ex-Premier Boris Johnson, nach dem manche Bewohner in Kiew sogar Straßen benennen wollen.

Dass Liverpool voller ukrainischer Symbole, Musik, Ausstellungen ukrainischer Kunst und Filmvorführungen ist, weiß Tsukrenko nur aufgrund der Bilder und Videos, die geschickt werden. In Kiew selbst finden am Tag des Finales keine offiziellen Events statt. Keine Eurovision-Partys, kein Public Viewing. Zwar verläuft die Front mittlerweile weit von der Hauptstadt entfernt. Doch der Krieg ist auch hier allgegenwärtig. Und seit Ende April haben sich die russischen Angriffe auf die Hauptstadt mit Drohnen und Raketen wieder intensiviert.

Albert Tsukrenko ist Showrunner des Eurovision-Programms bei Suspilne, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Ukraine.
Foto: Daniela Prugger

Wettbewerb als Chance

Tsukrenko beschreibt all das als "bizarren Kontrast zwischen zwei Welten": Die einen tanzen auf der Bühne, die anderen kämpfen an der Front. "Die größte Herausforderung war für uns, eine Balance zu finden: zwischen einem unterhaltsamen Event und der Tatsache, dass sich die meisten hier im Land fragen, ob es in Ordnung ist, vor unserem Sieg zu tanzen und zu feiern", erklärt der 46-Jährige. Doch wahrscheinlich müsse man es eher so sehen, dass jeder seinen Beitrag für das Land leistet.

Die ukrainische Co-Moderatorin des Wettbewerbs, Yuliia Sanina, eröffnete den Abend des ersten Halbfinales musikalisch. Und mit dem Song "Herz aus Stahl" spielt die ukrainische Band Tvorchi, die die Ukraine in diesem Jahr vertritt, auf die großteils zerstörte und besetzte Stadt Mariupol und die Verteidiger des Stahlwerks Azowstahl an. "Trotz der Schmerzen setze ich meinen Kampf fort", lautet eine Strophe. "Genau so wird sich die Ukraine auch der Welt präsentieren", sagt Tsukrenko: "Als starkes Land, das nicht aufgibt."

Die Ukraine begriff die Veranstaltung schon früher als Chance: der Eurovision Song Contest als Soft Power. Damals ging es darum, das Katastrophen-Image loszuwerden, das durch Tschernobyl, den Krieg in der Ostukraine und Korruption vorherrschte. 2022 habe die Bedeutung des ESC noch weiter zugenommen, sagt Evgen Chizh, Chefproduzent bei den öffentlich-rechtlichen Radios.

Wichtiges Signal: Vergangenes Jahr gewann die ukrainische Band Kalush Orchestra den ESC.
Eurovision Song Contest

Der Traum von Europa

"Der Krieg hat alles verändert, und ich glaube, seitdem er begonnen hat, findet man hier kaum noch jemanden, der Eurovision für einen Witz hält. Die Veranstaltung ist für uns ernster denn je." Der 53-Jährige sitzt hinter seinem Schreibtisch in einem Büro, in dem kurz davor noch geraucht wurde. "Es mag sein, dass die Ukraine in den vergangenen Jahren exzentrisch war. Aber für uns bedeutet die Teilnahme am Song Contest, ein Teil von Europa zu sein." Und gerade deshalb bemüht sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk darum, dass die Veranstaltung nicht nur im Fernsehen, sondern auch im Radio so ausführlich wie möglich gezeigt und besprochen wird. "Einige Gebiete in unserem Land sind besetzt, und in manchen Gegenden gibt es keinen Strom oder Internet", so Chizh. "Das Radio stellt damit oft die einzige verlässliche Quelle dar, um Nachrichten zu hören."

Die britische Regierung hat fast 3.000 Eintrittskarten für Ukrainer zur Verfügung gestellt, die ihre Heimat aufgrund des Krieges verlassen mussten und darüber hinaus zehn Millionen Pfund für die Ausrichtung des ESC im Namen der Ukraine und die Unterstützung ihrer Kultur und Kreativität bereitgestellt. "All dies werden wir nie vergessen", teilt das ukrainische Kulturministerium auf Anfrage des STANDARD mit, ohne darauf zu vergessen, zu betonen, dass die Ukraine derzeit Demokratie und Freiheit verteidige: "Es ist sehr wichtig, dass die Eurovision-Zuschauer dies wissen."

Die Suspilne-Journalistin Anna Sakletska empfand den Sieg der Ukraine 2022 als "Lichtblick in einer dunklen Zeit". Sie hofft auf ein baldiges Kriegsende.
Foto: Daniela Prugger

Fernab der Leichtigkeit

Als einen Lichtblick in einer dunklen Zeit – so beschreibt Anna Sakletska den Moment, als die ukrainische Band Kalush Orchestra im Mai letzten Jahres den Eurovision Song Contest für die Ukraine gewann. Zum dritten Mal in der Geschichte. "Viele Menschen in der Ukraine haben diesen Abend in Schutzkellern und U-Bahn-Stationen verbracht und dabei aber eine starke Solidarität Europas gespürt", erklärt die 38-jährige Journalistin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Suspilne. "Ich habe den Auftritt von Kalush als würdevoll in Erinnerung. Für unsere Moral war das ein entscheidender Tag."

Sie sitzt im Umkleideraum der Rundfunkanstalt, eine Kosmetikerin zieht ihre Augenbrauen nach, trägt Lidschatten und Rouge auf. Sakletska moderiert die Eurovision-Abende fürs Fernsehen, in einem schmucklosen Studio im Zentrum der Hauptstadt, fernab der Opulenz und der Leichtigkeit, für die der Event eigentlich steht und die er bei den Menschen auslösen soll.

Trotz der Vorfreude und der leisen Hoffnung, dass die Ukraine vielleicht ein weiteres Mal gewinnt oder der künftige Sieger dem Land anbietet, den nächsten Event hier auszutragen, macht sich auch Moderatorin Sakletska so wie die meisten große Sorgen um die Zukunft ihrer Familie. Sie selbst hat zwei Kinder, darunter einen zwölfjährigen Sohn. "Einige der Soldaten, die jetzt kämpfen, waren zehn Jahre alt, als der Krieg in der Ostukraine begann", sagt sie. "Mein eigener Sohn träumt mittlerweile davon, dass er Pilot bei den Luftstreitkräften wird. Ich träume davon, dass dieser Krieg endlich endet." (Daniela Prugger aus Kiew, 12.5.2023)