An der griechischen Außengrenze der EU werden Asylsuchende, darunter Frauen mit Babys und kleinen Kindern, in manövrierunfähigen Rettungsinseln auf dem offenen Meer ausgesetzt. Das belegen die Recherchen des österreichischen Flüchtlingshelfers Fayad Mulla samt vertiefenden Nachforschungen der New York Times. Sie lassen keinen Zweifel an diesen Vorkommnissen aufkommen. Aufzeichnungen der türkischen Küstenwache legen darüber hinaus nahe, dass diese Praxis schon seit mehreren Jahren läuft.

Das trifft ins Herz der europäischen Flüchtlingspolitik. Es zeigt, wie schmal der Grat zwischen den Versuchen des Eindämmens von Fluchtbewegungen, über die seit Jahren diskutiert wird, und dem Brechen grundlegender Menschenrechte ist. Diese zu beschwören ist zu wenig: In Griechenland müssen sie erst wieder durchgesetzt werden – denn das Bestreben, Schutzsuchende wieder loszuwerden, hat dort die Dämme zivilisierten Verhaltens brechen lassen.

Ein Schiff der griechischen Küstenwache, das Flüchtlinge aufs offene Meer bringt, um sie dort in einem Life-Boat auszusetzen.
Foto: 2023 The New York Times/Fayad Mulla

In Griechenland selbst, wo am Sonntag ein neues Parlament gewählt wird, stellen sich nun ganz konkrete Fragen. Wer sind die Truppen maskierter Männer, die Jagd auf frisch angekommene Flüchtlinge machen? Wer hat ihnen den Auftrag dazu erteilt und zahlt für sie? Welche Rolle spielt dabei die griechische Küstenwache, die mit großzügigen europäischen Steuergeldern ausgestattet wird? Hier sind die Parteien, die Zivilgesellschaft und die Justiz am Wort.

Das Thema Geldgeber interessiert aber auch in der EU insgesamt. Dass aus den Finanztöpfen der Union vielleicht paramilitärische Schlägerbanden bezahlt werden, die wehrlosen Männern die Arme mit Kabelbindern fesseln und kleine Kinder auf dem offenen Meer bewusst in Lebensgefahr bringen, muss jede Europäerin, jeden Europäer zum Nachdenken bringen.

Apropos Kinder: Wie oft haben wir in den vergangenen Jahren gehört, dass Frauen und Minderjährige auf der Flucht besonders schützenswert seien? Der Bericht der New York Times spricht vom krassen Gegenteil. Auch dass sich die schwer rechtswidrige Praxis laut dem Bericht bereits institutionalisiert haben dürfte, muss nachdenklich stimmen: Die Griechen schicken den Türken nach den Flüchtlingsaussetzungen Informationen über den konkreten Ort per Fax. Die türkische Küstenwache sammelt die Boote ein.

Der kriminelle Wille, den derlei verrät, rückt letztlich die Asylpolitik als Ganzes in ein schlechtes Licht. Auch die aktuellen flüchtlingspolitischen Pläne der Union stellt er infrage: Wie soll die Auslagerung von Asylanträgen an die Ränder der Union und darüber hinaus funktionieren, wenn schon im Unionsstaat Griechenland im Windschatten der EU-Türkei-Erklärung Willkür gegenüber Schutzsuchenden herrscht? Wie soll das Einhalten basalster humanitärer Regeln kontrolliert werden, wenn das Flüchtlingsaufnahmezentrum zum Beispiel in Nordafrika steht?

Was es jetzt braucht, ist eine genaue offizielle Untersuchung des langjährigen griechischen Skandals – und eine massive Stärkung menschenrechtlicher Kontrollmechanismen im EU-weiten Flüchtlingswesen. Auch wäre schwer zu empfehlen, die Ohren gegenüber rechten Einflüsterern in Zukunft öfter zu versperren. Die Infragesteller von Asyl- und Menschenrechten haben hier in den vergangenen Jahren viel zu viel Einfluss genommen. Auch in Österreich. (Irene Brickner, 19.5.2023)