Ilkim Erdost von der Arbeiterkammer erklärt in ihrem Gastkommentar, warum es die Zentralmatura so nicht braucht. AHS-Lehrer Georg Cavallar hält dagegen.

Matura Schule Jugendliche
Ist die Zentralmatura ein wichtiger Abschluss? Und was wäre die Alternative?
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Ja, findet Ilkim Erdost

Die Matura ist die Konservendose der Bildung: Luftdicht versiegelt steht sie stur im Küchenkasterl herum. Ignoriert, was um sie herum passiert. Die Arbeitswelt ändert sich? Die Eintrittsphasen an der Uni? Digitalisierung? Was juckt das die Matura schon.

Die Zentralmatura hat nicht die Fairness gebracht, die sich ihre Erfinderinnen und Erfinder erhofft hatten – nur in einem Punkt: Jetzt sind alle gleichermaßen gestresst. Die Schülerinnen und Schüler: Sie müssen in einem aberwitzig dichten Zeitkorsett Höchstleistungen bringen – während sie schon auf die Aufnahmetests an Unis und FHs schielen. Die Lehrkräfte: Sie können ihr didaktisches Feingefühl in dieser zentralisierten Beurteilung nicht einsetzen – und müssen Druck auf Schülerinnen und Schüler ausüben. Die Eltern: Die wenigsten können ihren Kindern in diesen Schulstufen noch weiterhelfen – und finanzieren das 121-Millionen-Euro-Business namens Nachhilfe.

Ärgernis und Zeitfresser

Diese Phase ist für alle vor allem eines: ein irrsinniger Stress. Dabei wäre der Schulabschluss eine Chance, festzuhalten, was die Schülerinnen und Schüler wirklich können. Wer sie sind, was sie auszeichnet. Aber die Matura sagt nicht mehr aus als das Etikett auf einer Konservendose: Es zeigt, welche Zutaten irgendwann einmal reingestopft wurden. Aber nicht, wie das, was drinnen ist, jetzt schmeckt. Der Prozess selbst ist genauso schal: keine Orientierung, kein Blick nach vorn. Beratung? Fehlanzeige. Die Matura ist letztlich ein Ärgernis, ein Zeitfresser, eine Hürde, die eben genommen werden muss. Sie glauben mir nicht? Fragen Sie junge Menschen, Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer in Ihrer Umgebung. Eine Umfrage des Österreichischen Bundesverlags Schulbuch unter Lehrpersonal gibt einen Überblick: 82 Prozent sagen, es werde zu stark "auf die Matura hin" unterrichtet. Mehr als die Hälfte sagt: Das letzte Schuljahr gehöre dem "Bulimie-Lernen". So viel reinstopfen wie irgend möglich, am richtigen Tag alles rauswürgen. Und langfristig bleibt wenig übrig.

"Im letzten Schuljahr sollte viel mehr darüber geredet werden, was die Schülerinnen und Schüler können – und wollen."

Zwei Drittel der Lehrerinnen und Lehrer sagen folgerichtig: Die Matura in der jetzigen Form sei nicht mehr zeitgemäß. Und, siehe oben, das letzte Schuljahr trage nichts zur Orientierung bei. Eine Erhebung des Bildungsministeriums unter Maturierenden hat ergeben: 82 Prozent haben Probleme, sich für eine weitere Laufbahn zu entscheiden. Deshalb sollte im letzten Schuljahr viel mehr darüber geredet werden, was die Schülerinnen und Schüler können – und wollen. Welches Studium passt? Welcher Beruf? Am besten mit einem Stundenkontingent für sie alle. Für Projektwochen und Exkursionen an Unis und in Betriebe.

Statt einer Abschlussprüfung für alle aus der Konserve: Wie wäre es mit einem individuellen Menü? Zum Beispiel so: Die vorwissenschaftliche Arbeit beziehungsweise die BHS-Diplomarbeit mündet direkt in eine abschließende Projektarbeit. Fächerübergreifend, maßgeschneidert für die Fähigkeiten und Interessen. Es würde Zeit frei werden durch eine Reform der Konservenmatura. Die können Schülerinnen und Schüler und Lehrende gezielt nutzen, ohne sich aufzureiben. (Ilkim Erdost, 14.6.2023)

Nein, findet Georg Cavallar

Die Arbeiterkammer Wien plädiert für eine Reform der derzeitigen Matura. Doch weder die Bestandsaufnahme noch die Reformvorschläge überzeugen.

Die neue Matura ermöglicht – zweitens – einen positiven Washback-Effekt. Die Lehrkräfte sind zumindest in den letzten beiden Jahren teilweise Coaches, die ihre Klassen gezielt auf die kompetenzorientierte Matura vorbereiten können, einfach aufgrund der Tatsache, dass auch sie nicht wissen, welche Themen zur schriftlichen Matura kommen oder bei der "Mündlichen" gezogen werden.

Auch die Reformvorschläge überzeugen wenig. Eine "Projektarbeit" gibt es schon, nämlich in Form der Vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA). Soll diese "Projektarbeit" (das klingt – ich gebe es zu – immer sehr gut) die VWA ergänzen? Wozu dann zwei Arbeiten? Oder ersetzen? Warum denn, was wäre der Mehrwert? Berufsorientierung? Ist sicherlich hilfreich. Diese gibt es allerdings auch schon, und hier wäre es wohl je nach Schulstandort sinnvoll, nachzubessern, statt pauschal und für alle ein "Mehr" zu verlangen.

"Cui bono? Wem würde diese Reform nützen?"

Was die Bestandsaufnahme betrifft, fällt das Schlagwort von "stupidem Auswendiglernen für Tests". Nun ist gerade dieses Auswendiglernen bei der teilzentralen und kompetenzorientierten Matura nicht mehr möglich. Bei der "Schriftlichen" geht das bei Deutsch, Mathematik und in den Fremdsprachen jedenfalls nicht (mehr), da nur Themenbereiche bekannt sind. Auch bei der mündlichen Matura ist das nicht mehr möglich: Nur eine von drei Aufgabenstellungen bezieht sich auf Reproduktion, die anderen beiden auf Transfer und Reflexion (mit den Operatoren "Bewerten", "Vergleichen"). Die Forderung von Ilkim Erdost, es müsse mehr Fokus auf den Kompetenzen in den letzten Schuljahren liegen, geht daher ins Leere.

Objektivität und Fairness

Ja, Jugendliche können nach zwölf oder dreizehn Schuljahren an punktuellen Prüfungen scheitern. Das ist nicht unbedingt eine Katastrophe. Dann wird dieser Teil der nicht bestandenen Matura im Herbst nachgeholt. Die Vorteile der jetzigen Matura gegenüber dem alten Modell kommen nicht zur Sprache. Erstens bietet die neue teilzentrale Matura mehr Objektivität, Fairness, Vergleichbarkeit, Reliabilität und Notenwahrheit. Für alle Kandidatinnen und Kandidaten gelten österreichweit die gleichen Bedingungen und Anforderungen und Mindeststandards, denn Lehrkräfte haben nicht mehr die Möglichkeit, ihren Klassen vorab Prüfungsangaben mitzuteilen.

Cui bono? Wem würde diese Reform nützen? Wohl eher nicht den sozialen Schichten, die die AK vertritt – sondern den Akademikerfamilien, die ihre Kinder mit Vorliebe in die leistungsorientierten Schulen schicken, wo oft schon vor der Matura die Studierfähigkeit erreicht ist.

So wie es Kritik geben sollte, so auch Kritik an der Kritik. Die "Reformitis", die der Bildungswissenschafter Roland Reichenbach als "globale Entzündung" bezeichnet (DER STANDARD, 13. 1. 2015), fordert nach jeder Reform eine weitere. Ihre Sinnhaftigkeit sollte aber hinterfragt werden. (Georg Cavallar, 14.6.2023)