Wien – Noch fünf Ausgaben, dann sind 320 Jahre Geschichte. Entsorgt im Altpapiercontainer der Republik. Am Donnerstag, 30. Juni 2023, erscheint die letzte Ausgabe der "Wiener Zeitung" als gedruckte Tageszeitung. Konzipiert von Türkis-Blau, hat die schwarz-grüne Bundesregierung die Umwandlung des republikeigenen Mediums in ein Onlineportal für die junge Zielgruppe beschlossen. Künftig soll es maximal zehn Printausgaben pro Jahr geben.

Chefredakteur Thomas Seifert hat wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen für die "Wiener Zeitung" gekämpft – vergebens.
Christoph Liebentritt / buero butter

Im gesamten Unternehmen fallen rund 65 Jobs weg, die Redaktion schrumpft von 45 Redakteurinnen und Redakteuren auf vorerst gut zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Später sollen es wieder mehr werden. Unter den Abgängen ist die gesamte Führungsriege, darunter auch Thomas Seifert, der zuletzt gemeinsam mit Judith Belfkih die Chefredaktion bildete.

STANDARD: Am 30. Juni erscheint die letzte Ausgabe der "Wiener Zeitung". Welche Gefühle sind im Spiel?

Seifert: Im Gefühlscocktail finden sich die Ingredienzien Wehmut, Traurigkeit und Wut. Es ist schade um eine Zeitung, die wir mit Leidenschaft, Herzblut und Engagement Tag für Tag produziert haben.

STANDARD: Gibt es in der letzten Ausgabe noch eine Abrechnung mit der Regierung und der Geschäftsführung der "Wiener Zeitung"?

Seifert: Nostalgie und Wehmut werden die Leitmelodie der letzten Ausgabe, die Oasis-Lyrics-Zeile "Don't look back in anger" liefert dazu ein weiteres passendes Motto. Stoizismus und Stiff Upper Lip waren schon immer eine Stärke der "Wiener Zeitung". All das ändert nichts an der Tatsache, dass das Ende der "Wiener Zeitung" einen medienpolitischen Vandalenakt kulturloser Barbaren darstellt.

STANDARD: Was geht Österreichs Medienlandschaft verloren?

Seifert: Ein unaufgeregtes, respektables Blatt von historischer Bedeutung in einer Zeitungslandschaft, die leider immer noch sehr von hyperventilierenden, würdelosen Boulevardmedien dominiert ist. Qualitätsmedien wie DER STANDARD, "Die Presse" und die Bundesländerzeitungen sowie "Falter" und "Profil" verlieren einen wichtigen Verbündeten.

STANDARD: Viele Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion müssen das Unternehmen verlassen. Was bedeutet das für den ohnehin sehr anspannten Arbeitsmarkt in der Medienbranche?

Seifert: Derzeit ist von mindestens 60 bis 65 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Rede, deren Verträge gekündigt wurden. Die Chefredaktion – also auch ich selbst und meine Kollegin Judith Belfkih –, sämtliche Ressortleiterinnen und Ressortleiter, die meisten Redakteurinnen und Redakteure, Grafikerinnen und Grafiker, Layout, Social Media, Online, Vertrieb etc. verlieren – entgegen den Zusagen von Medienministerin Susanne Raab – ihre Jobs bei der "Wiener Zeitung".

Es wird selbst für exzellente Kolleginnen und Kollegen sehr schwierig werden, in der derzeit krisengeschüttelten Medienbranche eine adäquate Beschäftigung zu finden. Viele erfahrene, talentierte, leidenschaftliche Journalistinnen und Journalisten und Medienschaffende werden daher der Branche mangels interessanter Berufsalternativen den Rücken kehren. Ein schmerzlicher Verlust für die österreichische Medienlandschaft.

STANDARD: Wer trägt die Hauptschuld am Ende der "Wiener Zeitung", so wie man sie kennt?

Seifert: Der Masterplan für das Ende der "Wiener Zeitung", so wie wir sie kennen, stammt aus der Zeit von Türkis-Blau und wurde unter Medienminister Gernot Blümel ausgeheckt. Der damalige Kanzler Sebastian Kurz gefiel sich in seiner Rolle als österreichisch-ungarischer Mini-Orbán, da passte die Schwächung einer aufgeklärten Öffentlichkeit gut ins Konzept. Unter Schwarz-Grün wurde dieser Plan dann nahtlos umgesetzt, Medienministerin Susanne Raab und die Grünen-Abgeordnete Eva Blimlinger haben das schwarz-blaue Zerstörungswerk vollendet.

Dazu kommt: Schlüsselfiguren der Eigentümervertretung im Aufsichtsrat der "Wiener Zeitung" sind lupenreine ÖVPler. Was zum Beispiel der Hausanwalt der ÖVP, Werner Suppan, der frühere ÖVP-Spitzenfunktionäre und die ÖVP selbst in einer Reihe von Korruptionsaffären vertritt, im Aufsichtsrat eines Medienhauses im Eigentum der Republik zu suchen hat, fand ich immer schon einigermaßen merkwürdig und durchaus verstörend. Sollten in diesem Gremium nicht anstelle eines ÖVP-Strafverteidigers unabhängige Medienprofis sitzen? Dass der Geschäftsführer der "Wiener Zeitung" aus dem ÖVP-Umfeld stammt, wie übrigens dessen Vorgänger auch, rundet das Bild ab.

STANDARD: Neben dem Aus als Tageszeitung steht der Media Hub mitsamt der Journalistenausbildung im Zentrum der Kritik. Konnten die Bedenken, dass hier eine verstaatlichte Ausbildung im Einfluss des Kanzleramts geschaffen wird, zerstreut werden?

Seifert: Da die Frage der Unabhängigkeit der Redaktion derzeit noch unbeantwortet ist – Stichwort: Redaktionsstatut oder die zukünftige Chefredaktion –, lässt sich diese Frage nicht befriedigend beantworten. Aber ganz grundsätzlich: Die Architektinnen und Architekten des Wiener-Zeitung-Gesetzes hatten, und das hat sich im Gesetzwerdungsprozess gezeigt, diese Konstruktion nicht zu Ende gedacht.

STANDARD: Der neue SPÖ-Chef Andreas Babler hat angekündigt, die "Wiener Zeitung" als Tageszeitung wiederbeleben zu wollen, sollte er an die Macht kommen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer?

Seifert: Die Hoffnung stirbt zuletzt. (Oliver Mark, 25.6.2023)