Wir brauchen Menschen wie Assange, damit wir Missstände, "die im Dunkeln" liegen, sehen können, schreibt der Philosoph Slavoj Žižek in seinem Gastkommentar.

Der Whistleblower Julian Assange blickt 2019 nach einem Gerichtstermin in London aus einem Fenster, darin spiegeln sich Häuserfassaden.
Sitzt seit dem Jahr 2019 in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis ein: Wikileaks-Gründer Julian Assange.
Foto: AP / Matt Dunham

Anfang des Monats berichtete CNN, dass ein britisches Gericht dem Wikileaks-Gründer Julian Assange "die Erlaubnis verweigert hat, gegen einen Auslieferungsbefehl an die Vereinigten Staaten, wo er unter dem Espionage Act angeklagt ist, Berufung einzulegen". Auch wenn Assanges Anwaltsteam weiterhin seine Möglichkeiten ausloten wird, zieht sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zu. Die Zeit ist nicht auf seiner Seite. Die US-amerikanischen und britischen Behörden, die ihn verfolgen, können es sich leisten abzuwarten, bis das letzte öffentliche Interesse an seinem Fall angesichts von Kriegen, Klimawandel, Angst vor künstlicher Intelligenz und anderen globalen Problemen nachlässt.

"Wer sonst wird all die Missstände aufdecken, die die Mächtigen geheim halten wollen?"

Um diese Herausforderungen zu meistern, brauchen wir jedoch Menschen wie Assange. Wer sonst wird all die Missstände und unbequemen Wahrheiten aufdecken, die die Mächtigen geheim halten wollen – seien es Kriegsverbrechen oder das interne Wissen von Social-Media-Unternehmen darüber, welchen Einfluss ihre Plattformen auf die psychische Gesundheit von Mädchen haben?

Gefährlicher Kriegsnebel

Der jüngste Drohnenangriff auf den Kreml ist dafür ein typisches Beispiel. Während die ukrainische Regierung jegliche Beteiligung abstreitet (und den Angriff den russischen Oppositionskräften zuschreibt), verurteilte der russische Präsident Wladimir Putin den Angriff umgehend als "terroristischen Akt", und einige westliche Beobachter beklagten sich, dass die Ukrainer den Krieg zu weit getrieben hätten. Doch was ist wirklich passiert? Dass wir es nicht wissen, bedeutet, dass sich die Ereignisse in einem gefährlichen Kriegsnebel abspielen.

Man fühlt sich aber auch an die letzten Zeilen von Bertold Brechts Dreigroschenoper erinnert: "Und die einen sind im Dunkeln / Und die anderen im Licht / Doch man sieht nur die im Licht / Die im Dunkeln sieht man nicht". Wie könnte man das heutige Medienzeitalter besser beschreiben? Während die Mainstream-Medien voll sind mit Nachrichten über die Ukraine, so der Journalist Anjan Sundaram, finden die "riesigen Kriege" in der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo und anderswo kaum Beachtung.

Ungleiche Wahrnehmung

Diese Asymmetrie bedeutet nicht, dass wir der Ukraine weniger als unsere volle Unterstützung anbieten sollten. Aber sie zwingt uns, darüber nachzudenken, wie wir diese Unterstützung gestalten. Wir sollten die Vorstellung zurückweisen, dass die Ukraine vor allem deshalb Hilfe verdient, weil "so etwas in Europa nicht passieren sollte" oder weil wir "die westliche Zivilisation verteidigen". Schließlich ignoriert die westliche Zivilisation nicht nur die Schrecken, die sich außerhalb ihrer Grenzen ereignen, sondern macht sich oft sogar mitschuldig daran.

"Der Krieg zwingt uns zum Nachdenken über das, was wir nicht wissen, über das, was wir nicht wissen wollen, und über das, was wir zwar wissen, uns aber keine Gedanken darüber machen wollen."

Stattdessen sollten die Europäer und andere Westler erkennen, dass wir mit der Invasion in der Ukraine einen Vorgeschmack auf das bekommen haben, was sich die ganze Zeit über anderswo abgespielt – nur eben jenseits unserer Wahrnehmung. Der Krieg zwingt uns zum Nachdenken über das, was wir nicht wissen, über das, was wir nicht wissen wollen, und über das, was wir zwar wissen, uns aber keine Gedanken darüber machen wollen. Wir brauchen Menschen wie Assange, um dieses Nachdenken zu erzwingen – damit wir "die im Dunkeln" sehen können.

Zweierlei Maß

Natürlich kann man Assange dafür kritisieren, dass er sich nur auf den liberalen Westen konzentriert und die noch größeren Ungerechtigkeiten in Russland und China ignoriert. Aber diese Ungerechtigkeiten sind in unseren Medien bereits deutlich sichtbar. Wir lesen ständig darüber. Wenn Assange mit zweierlei Maß misst, dann gilt das auch für den Westen, der den Iran verurteilt und bei Saudi-Arabien wegschaut.

In Matthäus 7,3 heißt es: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge erkennst du nicht?" Assange hat uns gelehrt, nicht nur den Balken in unserem eigenen Auge zu sehen, sondern auch die verborgenen Verbindungen zwischen ihm und dem Splitter in den Augen unserer Feinde. Sein Ansatz ermöglicht es uns, viele der großen Kämpfe, die unsere Medien und unsere Politik beschäftigen, in einem neuen Licht zu sehen.

Woke und Rechte

Nehmen wir den Konflikt zwischen der neuen populistischen Rechten und der woken Linken. Ende Mai entfernte der Schulbezirk Davis im US-Bundesstaat Utah die Bibel aus seinen Grund- und Mittelschulen, nachdem sich ein Elternteil darüber beschwert hatte, dass die Bibel "keine seriösen Werte für Minderjährige" vermittle, weil sie "nach unserer neuen Definition pornografisch" sei. Ist dies nur ein Fall von Mormonen, die einen Kulturkampf gegen Christen führen? Im Gegenteil: Inzwischen hat der Bezirk einen Antrag erhalten, auch das Buch Mormon auf mögliche Verstöße gegen das Gesetz zu überprüfen.

Wer steckt also hinter diesen Forderungen? Ist es die woke Linke, die sich für das Verbot von Material über Rassen- und LGBT+-Themen rächen will? Ist es die radikalisierte Rechte, die strenge Kriterien für Familienwerte auf ihre eigenen geschätzten Texte anwendet? Letztlich ist es egal, denn sowohl die neue Rechte als auch die woke Linke haben sich dieselbe Logik der Intoleranz zu eigen gemacht. Bei aller ideologischen Feindseligkeit spiegeln sie sich gegenseitig. Während die woke Linke ihr eigenes politisches Fundament (die europäische emanzipatorische Tradition) demontieren will, hat die Rechte vielleicht endlich den Mut aufgebracht, die Obszönität ihrer eigenen Grundlagentexte infrage zu stellen.

Grausame Ironie

In grausamer Ironie gleitet die westliche demokratische Tradition der Selbstkritik ins Absurde ab und sät die Saat ihrer eigenen Zerstörung. Welche Themen schmachten im Dunkeln, während dieser Prozess das ganze Licht für sich beansprucht? Die größte Bedrohung für die westlichen Demokratien ist nicht Assange und die Transparenz, für die er steht, sondern vielmehr der Nihilismus und die Hemmungslosigkeit, die ihre Politik kennzeichnen.  (Slavoj Žižek, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 24.6.2023)