Mit 31 Jahren sehe ich mein Alter, indem ich auf andere blicke.
Mit 31 Jahren passt meine Furcht vor dem Alter zu meinem Alter.
Privat

Das weiße Tuch hing neben dem Kachelofen im ersten Stock des Altenheims. Jemand hatte drei Sätze darauf gestickt, die Schrift schwungvoll verschnörkelt und mit Ornamenten verziert. Immer wieder habe ich diese drei Sätze gelesen, wenn meine Eltern, meine Schwester und ich meine Großtante besuchten. Zeile um Zeile habe ich wiederholt, gegen die Langeweile und den Widerwillen, dort zu sein. "Ehret die Alten. Sie waren, wie ihr seid. Ihr werdet, wie sie sind." Damals war ich zehn Jahre alt. Der gestickte Spruch war, wie das gesamte Altenheim, eine entfernte Drohung.

Mittlerweile bin ich 31 und sehe mein Alter, indem ich auf andere blicke. Meine Schwester und viele meiner Freundinnen sind Mütter geworden und haben ihre Mütter zu Großmüttern gemacht. Ich bin wieder Studentin und merke: Meine Sprache, meine Kleidung, meine Sicht auf die Welt sind nicht die meiner Studienkolleginnen – ich bin keine 20 mehr. Wenn ich nach meinem Geburtsdatum gefragt werde, zögere ich. Das Älterwerden, das Altsein machen mir Angst.

Wie lange (noch)?

Denn: Im Gegensatz zu meiner Schwester und meinen Freundinnen weiß ich nicht, ob ich Kinder will. Ich weiß nicht, ob ich es jemals wissen werde. Wie lange werde ich noch entscheiden können, bis mir mein alternder Körper die Wahl nimmt? Und: Was werde ich noch verlieren? Meine Großtanten sind dement gestorben, mein Großvater ebenso. Was passiert mit meinen Erinnerungen? Ich will weder vergessen noch verschwinden.

Die Frage "Wie lange (noch)?" werde ich nicht beantworten können. Altwerden ist keine Entscheidung, die man treffen kann. Das Alter ist aber jene Zeit, so heißt es, in der wir mit unseren Entscheidungen leben (müssen). Über die wir keine Kontrolle haben. Und für die wir uns schämen – insbesondere als Frau. Die amerikanische Essayistin und Aktivistin Margaret Morganroth Gullette nennt das ein "Narrativ des Verfalls".

Glaubt man amerikanischen Studien, passt meine Furcht vor dem Alter zu meinem Alter. Vor allem junge Frauen tendieren zu einer sogenannten Altersangst ("aging anxiety"). Laut einer Studie der Soziologinnen Anne Barrett und Erica Toothman aus dem Jahr 2017 nimmt die Angst vor dem Alter aber mit zunehmenden Lebensjahren ab.

Ein Blick auf das Geburtsdatum

Meine Mama hat sich wie viele ihrer Freundinnen schon als 20-Jährige Kinder gewünscht. Trotzdem kam meine ältere Schwester erst knapp zehn Jahre später zur Welt. Damals war sie die älteste Erstgebärende auf der gesamten Station. An ihrem 40. Geburtstag waren meine Schwester und ich erst im Volksschulalter, die Kinder vieler Jugendfreunde aber bereits erwachsen. "Ich hatte Angst, dass mich die Jungen als alte Frau sehen", erzählt sie mir. Gullette nennt das den "age gaze", den durchdringenden Blick der Jugend.

"Bei jedem Zehnersprung wird's leichter."

Irgendwann hat das Alter aufgehört, meine Mama zu kümmern. Obwohl sie mit 63 Jahren der European Social Survey zufolge am Beginn des höheren Lebensalters steht, hat sie keine Angst mehr davor. "Bei jedem Zehnersprung wird's leichter", sagt sie, "mittlerweile ist es mir egal, weil der Abstand zu den Jungen schon so groß ist."

Mittlerweile ist meiner Mama ihr Alter egal. Der Abstand zu den Jungen sei schon so groß, sagt sie.
Mittlerweile ist meiner Mama ihr Alter egal. Der Abstand zu den Jungen sei schon so groß, sagt sie.
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Auch meine Oma väterlicherseits blickt nüchtern auf ihr Geburtsdatum. Sie ist 1932 geboren, im Oktober wird sie 91 Jahre alt. Als ich sie vorsichtig danach frage, ob sie sich denn alt fühle, zuckt sie mit den Schultern: "I weiß ah net, wie i sogn soll. Gibt's des schau, dass i schau so alt bin?"

Die "anderen Alten"

Der Existenzialist Jean-Paul Sartre würde dazu "das Unrealisierbare" sagen. Etwas, das für die anderen existiert, nicht aber für einen selbst. Weder meine Mama noch meine Oma fühlen sich alt. Es sind die "anderen", nicht man selbst, an denen die Jahre ihre Spuren hinterlassen. "I bin zufrieden mit meinem Alter. Schau da de anderen an, de mit 80 schon in einem Heim san", sagt meine Oma. "Ich möchte nicht zu den Pensionistinnen gehören, die sich jeden Tag zur selben Zeit treffen und tratschen", sagt meine Mama. "Sie sind alt geworden", sage ich – und meide mein Spiegelbild.

Für die "anderen" haben wir in unserer Mitte keinen Platz. "Wir lehnen es ab, uns in dem Greis zu erkennen, der wir einmal sein werden", schreibt die Philosophin Simone de Beauvoir. Vor allem ältere Frauen verschwinden aus unserem Blickfeld. In Hollywood erhalten Schauspielerinnen mit zunehmendem Alter weniger Sprechzeilen. Im deutschen Primetime-Fernsehen wurden laut einer TV-Analyse nur 8,5 Prozent aller Hauptcharaktere von Menschen, die älter als 60 waren, porträtiert. Ältere Frauen wurden noch weniger oft gezeigt als ältere Männer.

Unser Umgang mit dem Alter

Nicht das Alter als solches ist das Problem, sagt Gullette, sondern unser Umgang damit. Im deutschsprachigen Raum sprechen wir von Altersdiskriminierung, tatsächlich wird damit aber nur ein Teil des englischen Begriffs übersetzt. Denn Ageism meint nicht nur altersdiskriminierendes Verhalten, sondern auch altersfeindliche Stereotype und Vorurteile. Darunter fallen die "alte Hexe" und der "Senior am Steuer", aber auch das Infantilisieren älterer Menschen und deren Ausschluss aus der Gesellschaft. Im Gegensatz zu Sexismus oder Rassismus wird Ageism laut Gullette gesellschaftlich gemeinhin akzeptiert. Einem WHO-Bericht zufolge zeigt weltweit sogar jeder oder jede Zweite altersdiskriminierende Verhaltensweisen, die durch eine Furcht vor dem Alter noch zusätzlich verstärkt werden können.

Was also gegen Ageism und Altersangst tun? Die Wissenschaft empfiehlt mehr Bildung über das Alter. Dazu gehört wohl auch eine Abkehr von der Sicht auf die letzte Lebensphase als Gipfel aller (falsch) getroffenen Entscheidungen. "Wenn man sich weniger nach Managerart auf chronometrische Zeit und Alter konzentriert, können sich andere Dimensionen der Zeit öffnen, sodass das Leben ein Abenteuer bleibt", schreibt Jan Baars in "Aging and the Art of Living". Auch mehr und vor allem positiver Kontakt mit älteren Menschen hat sich in vielen Studien als effektiv erwiesen.

alte schwarz-weiß Fotos
Die Erinnerungen meiner Oma sind nicht geordnet– aber sie sind da.
Privat

Was, noch immer?

Weder meine Mama noch meine Oma stellen sich die Frage "Wie lange (noch)?", sondern vielmehr "Was, noch immer?". "Nur weil du alt bist, heißt das nicht, dass du gewisse Sachen nicht mehr machen kannst", sagt meine Mama. In der Pension hat sie sich einen Traum erfüllt und sich mit Kochkursen selbstständig gemacht. Vielleicht fange sie im hohen Alter wieder an zu malen, ergänzt sie. Eine Einschränkung aufgrund ihres Alters ist auch für meine Oma keine Option. Sie arbeitet nach wie vor im Garten, kocht und putzt in ihrer kleinen Wohnung: "Mir mocht nu ois an Spaß, und i dua nu ois, was i nu doa kann." Für ein "Früher" haben beide selten Zeit.

"I bin zufrieden. Wos woit ma denn mehr?"

Manchmal aber wartet meine Oma mit zwei Schuhkartons voller Schwarz-Weiß-Polaroids und bunten Fotografien auf ihrem Tisch auf mich. Die Bilder sind nicht geordnet, ihre Erinnerungen genauso wenig. Und dennoch: Beim gemeinsamen Durchschauen kennt sie beinahe jede Person, jeden Ort mit Namen. Dass viele der Abgebildeten nicht mehr sind, ist immer Teil der Erzählungen und – in meinen Erinnerungen – immer frei von Angst.

"I bin zufrieden", sagt sie schließlich, als ich sie nach einem Tipp fürs Altern frage. "Wos woit ma denn mehr?" Dann lacht sie und wackelt mit den Zehen. Ich nicke zustimmend und denke erneut an jenen Spruch aus dem Altenheim: "Ehret die Alten. Sie waren, wie ihr seid. Ihr werdet, wie sie sind." Vielleicht habe ich den Inhalt missverstanden. (Anna Wiesinger, 12.8.2023)