Wenn unser Gesundheitssystem unberechenbar geworden ist, haben wir ein massives gesellschaftliches Problem, schreibt der Politikberater Wolfgang Ainetter in seinem Gastkommentar.

Illustration, medizinisches Personal in einem OP-Saal
Chirurgische Eingriffe sind im Krankenhaus klarerweise Routine. Für Patientinnen und Patienten hingegen sind sie eine Ausnahmesituation.
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Ich war acht Jahre alt, als ich das erste Mal in die Uniklinik Innsbruck musste: Blinddarm-OP. Mein Vater legte mir damals die Hand auf die Schulter und sagte: "Du brauchst keine Angst zu haben, mein Schatz. Du bist in einem der besten Krankenhäuser der Welt. Alles wird gut."

43 Jahre später stehen wir erneut auf dem bedrückenden Klinikgelände. Papa ist mittlerweile 84. Seit dem Tod meiner Mutter vor sieben Monaten fühlt er sich oft einsam und allein. Ich, der einzige Sohn, wohne sieben Zugstunden entfernt in Berlin. Ich bin nach Tirol gereist, um ihn auf die Urologie zu begleiten. Papa hat Krebs. 20 Tumore.

Ich verabschiede Papa mit einem Kuss: "Du wirst sehen, alles wird gut." Papa hat Angst. Er sagt: "Hoffentlich überlebe ich die schwere Operation." In seinen Rucksack hat er das T-Shirt gepackt, das ihm die zwei Enkeltöchter (11 und 13) geschenkt haben: "Bester Opa der Welt." Sein Glücksbringer. Er checkt in der Station Urologie Süd ein. Papa ist kein VIP-Patient, also Doppelzimmer. Er hat keine Zusatzversicherung.

"Sieben Uhr. Acht Uhr. Neun Uhr. Zehn Uhr. Elf Uhr. Zwölf Uhr. Niemand kommt. Hat man ihn vergessen?"

Am Abend ruft Papa mich an: "Der Arzt hat mir gesagt, dass ich morgen um sieben Uhr als Erster operiert werde." Er schläft schlecht und wacht früh auf. Sieben Uhr. Acht Uhr. Neun Uhr. Zehn Uhr. Elf Uhr. Zwölf Uhr. Niemand kommt. Hat man ihn vergessen? Kurz vor 13 Uhr betritt endlich eine Krankenschwester sein Zimmer. Sie kommt mit einer schlechten Nachricht: "Wir schaffen die OP heute nicht mehr. Sie müssen jetzt bitte nach Hause gehen. Neuer OP-Termin ist in einer Woche."

Mein Papa beschwert sich nicht – trotz Verlängerung des nervenaufreibenden Wartens. Er ist jemand, der immer höflich bleibt, ein Mensch, der alles hinnimmt und sich kaum wehrt. Früher war er Polizist. Ein Freund hat einmal lachend gemeint, dass Papa für diesen harten Job viel zu lieb gewesen sei.

Langes Warten

Papa ruft mich sofort an, ich merke, wie sehr er sich bemüht, nicht zu weinen: "Ich werde jetzt ohne Operation nach Hause geschickt – obwohl ich 30 Stunden hier in der Klinik gewartet habe. In einer Woche muss ich wiederkommen. Das heißt, dass ich meinen Geburtstag im Krankenhaus verbringen muss." Am 11. September wird er 85. "Warum?", frage ich empört. "Sie haben nur gesagt, dass es diesmal zeitlich nicht geht."

Vor zwei Monaten war Papas OP schon einmal verschoben worden. Neun Stunden hatte man ihn in der Klinik warten lassen und dann heimgeschickt. Auch damals war ich eigens aus Berlin angereist. 752 leere Kilometer hin und 752 leere Kilometer retour. 14 Stunden in der Bahn. Doch darum geht es mir nicht. Für Papa würde ich auch 10.000 Kilometer in Kauf nehmen.

Massives Problem

"Einen Spitzenpolitiker oder Chefredakteur hätte die Klinik nicht einfach heimgeschickt", sage ich. "Ich könnte kotzen, wie sie dich behandeln. Du liegst 30 Stunden in der Klinik, bereitest dich mental auf deine lebensnotwendige Krebs-OP vor, und dann kommt irgendwann jemand und schickt dich nach Hause – ohne OP, ohne Erklärung und ohne Entschuldigung. Und das passiert dir gleich zweimal innerhalb von zwei Monaten."

Ich rufe auf der Station an. Ein Pfleger sagt: "Sie müssen sich an die Ärzte wenden" und drückt mich weg. Es folgt ein Telefonmarathon. Die Ärzte verweisen auf den Direktor der Uniklinik für Urologie. Der ist auf dem Sprung in den Urlaub. Mir tut es weh, zu sehen, wie mein Vater leidet. Ich schreibe dem Direktor eine Nachricht und frage, ob es möglich wäre, den neuen OP-Termin (7. September) um drei Tage vorzulegen. Und: "Ich weiß, wie viel Ihre Ärzte zu tun haben. Aber wenn unser Gesundheitssystem unberechenbar geworden ist, haben wir ein massives gesellschaftliches Problem."

Fehlendes Personal

Der Direktor antwortet rasch, dass es "an OP-Dienern und Anästhesisten fehlt": "Es ist derzeit leider fast unmöglich, ein funktionierendes OP-Programm zu gestalten."

Ich bin frustriert. "Wäre mein Vater Tiroler Landeshauptmann, hätte man den OP-Termin niemals verschoben. Ein alter alleinstehender Mann kann sich am schlechtesten wehren", antworte ich ihm.

Mein Papa sagt später einen Satz, der mir ans Herz geht: "Ich fühle mich wie ein Altpapiercontainer, den man so schnell wie möglich loswerden will und einfach wegschiebt." Puh. In meinem Leben will ich nie wieder die Politikerphrase "Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt" hören. (Wolfgang Ainetter, 5.9.2023)