Im ersten Halbjahr 2023 wollte Radiodirektorin Ingrid Thurnher eine neue Flottenstrategie für die ORF-Radios fixiert haben, nun geht es heute, Dienstag, in eine weitere, womöglich entscheidende interne Klausur über die Zukunft von Ö3, FM4, Ö1 und Bundesländerradios von Radio Wien bis Radio Vorarlberg. Kommende Woche tagt das oberste ORF-Entscheidungsgremium Stiftungsrat. Die Radiostrategie soll dort jedenfalls Thema sein, sagen Menschen aus dem ORF mit Einblick in die Vorgänge.

Der neue Ö3-Chef Michael Pauser im ORF-Zentrum
Der neue Ö3-Chef Michael Pauser verantwortet eine zentrale wirtschaftliche Stütze des ORF – mit zuletzt sinkenden Hörerinnenzahlen.
ORF/Hans Leitner

Cashcow Ö3

Der neue Ö3-Chef Michael Pauser hat gerade erst mit 1. September seinen Dienst offiziell angetreten, Ende Juli machte der ORF seine – lange schon erwartete und kolportierte – Bestellung öffentlich. Der langjährige Ö3-Chef Georg Spatt zog sich mit Sommer dieses Jahres zurück.

Pauser kennt Ö3 schon länger: 1999 übernahm er die Ressortleitung der neu gegründeten Ö3-Internetredaktion, ab 2003 leitete er den Bereich Moderation bei Ö3, ab 2011 die Ö3-Programmgestaltung. Erst 2022 übersiedelte er vorübergehend als Bürochef zum Technikdirektor. Über seine Pläne mit dem ORF-Popradio will er sich erst Ende September äußern, nach Klausur und Stiftungsrat.

Weniger Werbeminuten, dafür neuer ORF-Beitrag

Ö3 ist eine zentrale kommerzielle Stütze des ORF und spielt bisher mehr als 50 Millionen Euro mit Werbung ein, rund ein Viertel der gesamten klassischen Werbeerlöse des ORF. Das neue ORF-Gesetz kürzt zwar die ORF-Radiowerbezeiten von 172 auf 155 Minuten täglich; nach Berechnungen des langjährigen Mediaagenturchefs Peter Lammerhuber in einem Gutachten für den Privatsenderverband VÖP dürfte das an den realen Werbeeinnahmen des ORF-Senders wenig ändern.

Der ORF erhält mit dem neuen Gesetz zudem statt der bisherigen GIS eine Haushaltsabgabe von allen; dieser neue ORF-Beitrag soll jährlich 710 Millionen Euro einspielen, aus der GIS waren 2023 rund 676 Millionen Euro veranschlagt.

Die Reichweiten von Ö3 bei der Werbezielgruppe unter 50 Jahren legten im jüngsten Radiotest statistisch signifikant zu*. Die – gemeinsam vermarkteten – Privatsender legten aber ebenfalls signifikant zu und liegen mit zusammen 42 Prozent Reichweite inzwischen deutlich vor Ö3 mit 36,2 Prozent.

Die Grundsatzfrage der Radioflottenstrategie hat Radiodirektorin Ingrid Thurnher 2022 im autorisierten STANDARD-Interview so umrissen: "Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, und darüber werden wir im Laufe des ersten Halbjahres 2023 entscheiden: Entweder es wird Ö3 jünger und die Landesstudios schließen beim älteren Publikum an. Oder Ö3 ist die große, breite Radiomarke, die bis 50 den Markt abdeckt, und es gibt unten dran ein jüngeres Ö3."

Jüngeres Ö3?

Die von Thurner in dem Interview bestätigte – und ORF-intern schon lange zuvor gewälzte – Überlegung, FM4 zu einem jüngeren Ö3 zu machen, sorgte für heftige Proteste etwa aus der Kulturszene für den Erhalt als Alternative-Programm. Der ORF setze damit seine Legitimation, Gebühren einzuheben, aufs Spiel, wurde argumentiert. Zur lange kolportierten Überlegung, FM4 als eine Art jüngeres Ö3 neu zu positionieren, teilte Thurnher vor einem Jahr mit: "Vielleicht wird es das."

Nun, ein Jahr und die eine oder andere Radiostudie später, gilt eine grundlegende Neupositionierung von FM4 Richtung kommerzieller Jugendkanal als noch ein Stück schwerer vermittelbar für einen öffentlich-rechtlichen Sender, dessen öffentliche Finanzierung mit der Haushaltsabgabe gerade abgesichert und gestärkt wird. Zugleich hat ORF-General Roland Weißmann aber einen "ORF für alle" als Ziel ausgegeben und schon in seiner Bewerbung 2021 Lücken bei der Ansprache vor allem von jüngeren Zielgruppen auf dem Land moniert. Das urbane FM4 könnte sich da allerdings in seiner bisherigen Konzeption eher schwer tun.

Fast zeitgleich mit dem Thurnher-Interview gab es im Herbst 2022 eine Programmreform bei FM4, die das Programm untertags durchhörbarer machen sollte; im jüngsten Radiotest legte FM4 zuletzt statistisch signifikant im Jahresvergleich zu – von 4,9 auf nun 5,7 Prozent Reichweite bei den Menschen von 14 bis 49 Jahren.

Welche Richtung sollen die ORF-Radios nun nehmen? Dazu waren in höheren ORF-Etagen zuletzt nur Verweise auf die Radioklausur am Dienstag zu hören, die der Medienberater und frühere ORF-Mann Stefan Ströbitzer moderiert. Ebenso zu hören: viel Lob für und einige Erwartungen an den neuen Ö3-Chef Michael Pauser.

Ö1 wiederum dürfte 2024 einen neuen Chef suchen: Kulturchefin und Stellvertreterin Silvia Lahner führt den Kultur- und Infosender des ORF vorerst interimistisch. Auch bei Ö1 sah Thurnher Reformbedarf, das Programm am Morgen wurde mit weniger Moderatorinnen und mehr Wortsendungen ein Stückchen umgestaltet. (Harald Fidler, 4.9.2023)