Im Bild ist OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher zu sehen, aufgenommen in Berlin.
Andreas Schleicher, OECD-Direktor für Bildung und Kompetenzen, ordnet Österreichs bildungspolitische Performance im Vergleich mit anderen Industrienationen ein und benennt zum Teil langjährige Schwachstellen.
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Seit 1996 vergleicht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in der Studie "Education at a Glance" (Bildung auf einen Blick) die wichtigsten Kennzahlen der Bildungssysteme der OECD-Länder sowie einer Reihe von Beitritts- und Partnerländern. Nun liegt die Ausgabe für 2023 vor. Wie hat Österreich abgeschnitten? OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher über die Performance des heimischen Bildungssystems im internationalen Vergleich.

STANDARD: Welches Ergebnis der Österreich-Auswertung in der neuen Ausgabe von "Education at a Glance" hat Sie – auch mit dem Wissen um die Vorjahre – besonders überrascht?

Schleicher: Bildung hat in Österreich traditionell einen hohen Stellenwert, Österreich investiert viel in Bildung, die Lehrergehälter sind im internationalen Vergleich hoch und die Klassen klein. Aber ein Bildungssystem muss so viel besser sein, wie es teurer ist, und da muss Österreich noch mehr tun, um in der Spitzengruppe der Bildungssysteme mitzuspielen. Das zeigt sich sogar in den Bereichen, wo Österreich traditionell sehr stark ist, im Berufsausbildungssystem. Nur 55 Prozent aller Auszubildenden in Österreich schließen ihre Ausbildung erfolgreich in der vorhergesehenen Zeit ab, und selbst zwei Jahre später liegt die Erfolgsquote nur bei 76 Prozent.

STANDARD: Was ist daher die wichtigste bildungspolitische Empfehlung für Österreich?

Schleicher: Österreich muss die Förderung der schwächsten Schülerinnen und Schüler forcieren und ausbauen. Die meisten OECD-Staaten haben in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht, die Zahl der jungen Erwachsenen ohne Abschluss der Sekundarstufe II zu reduzieren. In Österreich hingegen stagniert der Anteil der jungen Erwachsenen, die diese elementare Qualifikation nicht besitzen, seit 2015 bei zehn Prozent. Um die Erfolgsquoten in der Sekundarstufe II zu erhöhen, reicht es nicht, sich auf dieses Bildungsniveau zu konzentrieren. Die frühe Förderung von sozial benachteiligten und schwachen Schülerinnen und Schülern von der frühkindlichen Bildung an ist entscheidend.

STANDARD: Die OECD-Vergleichsstudie "Bildung auf einen Blick" hat heuer einen Schwerpunkt auf dem Thema berufliche Ausbildung. Da schneidet Österreich traditionell sehr gut ab. Wo aber sollte auch da reformiert und weiterentwickelt werden – gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, der sich auch aus demografischen Gründen ja weiter zuspitzen wird?

Schleicher: Zwei Maßnahmen sind besonders wichtig: Zum einen müssen die Inhalte der beruflichen Ausbildung an die sich kontinuierlich wandelnden Bedürfnisse des Arbeitsmarkts angepasst werden. Dabei hilft in Österreich die traditionell enge Kooperation zwischen Arbeitgebern und den verantwortlichen staatlichen Stellen. Zum anderen muss die berufliche Bildung stärker in alle Phasen des Arbeitslebens integriert werden. Neue Unterrichtsangebote sind nötig, die sich an Erwachsene in allen Stadien ihrer Karriere richten und ihnen ermöglichen, sich weiterzubilden.

STANDARD: Österreich hat, wie andere Länder auch, einen Lehrkräftemangel. Welche Maßnahmen empfehlen Sie, um gegenzusteuern?

Schleicher: Finnische Lehrkräfte verdienen viel weniger als ihre österreichischen Kolleginnen und Kollegen. Trotzdem gibt es in Finnland sieben Bewerber auf jede Lehrerstelle, während in Österreich Lehrermangel herrscht. Auch das zahlenmäßige Verhältnis von Schülern pro Lehrkraft unterscheidet sich kaum. Wenn nicht Geld und Klassengrößen, was macht den Lehrerberuf attraktiv?

STANDARD: Wie lautet die Antwort? Das Attraktive an diesem Beruf ist ja offenkundig für viele nicht mehr so klar und eindeutig erkennbar.

Schleicher: Die Erwartungen an Lehrkräfte sind hoch und steigen beständig. Wir erwarten von ihnen Expertenwissen darüber, was sie unterrichten, wen sie unterrichten und wie Schülerinnen und Schüler lernen. Wir erwarten von ihnen, leidenschaftlich und mitfühlend zu sein; Schülerinnen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Hintergründen und Sprachen als Coach und Mentor individuell zu begleiten und Toleranz und sozialen Zusammenhalt zu fördern. Nicht zuletzt werden Schülerinnen und Schüler nur dann zum lebenslangen Lernen motiviert, wenn sie ihre Lehrkräfte als aktive, lebenslang lernende Personen wahrnehmen, die dazu bereit sind, ihren eigenen Horizont zu erweitern und das etablierte Wissen ihrer Zeit infrage zu stellen.

STANDARD: Das ist schon eine sehr umfangreiche Erwartungspalette.

Schleicher: Wir erwarten aber noch mehr von Lehrerinnen und Lehrern. Die meisten erfolgreichen Menschen hatten in ihrer Schulzeit wenigstens eine Lehrkraft, die ihr Leben entscheidend beeinflusst hat – weil sie ein Vorbild war, sich wirklich für ihr Wohlergehen und ihre Zukunft interessierte und emotionale Unterstützung bot, wenn sie sie brauchten. Eine Arbeitsorganisation und Unterstützungskultur zu schaffen, wo diese Eigenschaften gedeihen, trägt wesentlich dazu bei, dass alle Schülerinnen und Schüler erfolgreich sind und der Lehrerberuf attraktiv ist.

STANDARD: Diese Aspekte, die Sie ansprechen, kommen in der politischen Debatte kaum vor.

Schleicher: Einfache Rezepte, wie Gehälter zu erhöhen, Klassen zu verkleinern oder Lehrverpflichtungen zu verringern, greifen aber nicht. Vielerorts hört man, unterrichtsferne Aufgaben sollten auf andere Dienstleister ausgelagert werden, damit sich Lehrkräfte ganz auf den Unterricht konzentrieren können. Das scheint zunächst effizient, aber in Finnland verbringen Lehrkräfte ein Drittel ihrer Zeit mit den Schülerinnen und Schülern außerhalb des Klassenverbands, oft kümmern sie sich dort um soziale Belange. In Japan reinigen die Schüler gemeinsam mit ihren Lehrern am Ende des Schultags sogar noch das Schulgebäude, denn es ist ihr gemeinsames Haus, für das sie gemeinsam verantwortlich sind. Sie arbeiten zudem über ihren Unterricht hinaus in Teams und mit anderen Schulen an der Entwicklung und Umsetzung innovativer Lernformate. In alldem liegt ein wesentlicher Schlüssel zur Attraktivität des Lehrerberufs.

STANDARD: Das würde einen grundlegenden Kulturwandel bedeuten, für alle Beteiligten.

Schleicher: Fragt man Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem Beruf zufrieden sind, was ihnen am wichtigsten ist und womit sie viel Zeit verbringen, dann sind die häufigsten Antworten die Qualität der Beziehungsarbeit, das Arbeiten im Team einschließlich Unterrichtshospitationen, Mentoring und gemeinsamer professioneller Weiterentwicklung sowie Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung. Vorschriftslastige Unterrichtsmodelle bringen selten kreative Lehrkräfte hervor. Personen, die nur ausgebildet werden, um vorgebratene Hamburger aufzuwärmen, werden keine Spitzenköche. Im Gegensatz dazu findet produktiver Unterricht statt, wenn Lehrkräfte Eigenverantwortung für ihre Klassen haben und die Schülerinnen und Schüler sich für ihr Lernen verantwortlich fühlen. Die Lösung besteht also darin, Vertrauen, Transparenz, professionelle Autonomie und die kooperative Kultur des Berufs gleichzeitig zu stärken.

STANDARD: Der österreichische Bildungsminister setzt stark auf das Thema Quereinstieg. Mit der Kampagne "Klasse Job" sollen Interessierte aus anderen Bereichen zum Wechsel in die Schule animiert werden. Was halten Sie von dieser Maßnahme?

Schleicher: Der Quereinstieg ist eine interessante Option, da es sich bei Quereinsteigern oft um motivierte Bewerber und Bewerberinnen handelt, die neue Perspektiven mit an die Schule bringen. Wichtig ist jedoch, dass Quereinsteiger eine angemessene Unterstützung erhalten. Dies beinhaltet die didaktische Weiterbildung, die Quereinsteiger entsprechend ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen auf die Rolle als Pädagogen vorbereitet, sowie die Unterstützung von Quereinsteigern durch erfahrene Lehrkräfte, zum Beispiel durch Mentoringprogramme.

STANDARD: Außerdem werden Lehramtsstudierende, die noch gar nicht fertig ausgebildet, aber in höheren Semestern sind, schon in die Schulen geschickt. Wie beurteilen Sie das?

Schleicher: Die frühere Beschäftigung von Lehramtsstudierenden ist ein interessanter Ansatz, da wir wissen, dass Studierende von frühen Berufserfahrungen profitieren. In der Planung einer solchen Maßnahme ist es allerdings wichtig sicherzustellen, dass die Qualität des Studiums nicht beeinträchtigt wird und dass Studierende so in Schulen integriert werden, dass die Kontinuität und Qualität des Unterrichts gewährleistet ist. (Lisa Nimmervoll, 12.9.2023)