Jüngst hat eine Handvoll rechtspopulistischer Parteien das Europäische Parlament in einem Entschließungsantrag aufgefordert, man möge den 12. September, das Ende der Türkenbelagerung des Jahres 1683, zu einem europäischen Feiertag erklären. Immerhin hätten damals christliche Kämpfer das Abendland gegen eine türkische Hegemonialmacht verteidigt. Die Forderung fügt sich in eine rechte Erinnerungskultur, welche die Schlacht am Wiener Kahlenberg zum abendländischen Fanal gegen den Islam hochstilisiert, um im selben Atemzug, mehr oder weniger subtil, die gewaltsame Bekämpfung Andersgläubiger und Andersdenkender zu fordern.

FPÖ Türkenbelagerung Rechte Geschichte
1683, die Türken stehen vor Wien: Das Bild zeigt brutale Szenen von der Schlacht am Kahlenberg.
Toni Schneiders / Interfoto / pi

Eine alte osmanische Legende besagt, dass im niederösterreichischen Weinviertel die gefallenen Krieger des Sultans aus dieser Zeit unter der Erde liegen und schlafen. In regelmäßigen Abständen werden sie der Sage nach geweckt und streifen geisterhaft durch die Lüfte. Ebenso verhält es sich mit dem Thema der Türkenkriege. Seit Jahrhunderten werden die damaligen Ereignisse in einen Gegenwartsbezug gesetzt, müssen die Toten beider Seiten herhalten als Metapher für eine Auseinandersetzung des "Wir gegen die anderen".

Nicht weit davon entfernt steht der Kriegsbegriff der "Festung Europa", der sehr rasch zu den bunten Bildern der Türkenbelagerung führt: ein Schutzwall gegen die Barbaren aus dem Orient – oder, wie es der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Jahr 2018 euphemistisch formuliert hat, "ein Synonym für ein sicheres Europa, das seine kulturelle Identität schützt". Was auch immer das heißen mag.

Im letzten Moment befreit

Aber was ist 1683 wirklich passiert? Das deutsch-österreichische Habsburgerreich und das osmanische Großreich lagen einander jahrhundertelang gegenüber. Es gab Handelsbeziehungen, es gab einen regen kulturellen wie diplomatischen Austausch, und immer wieder gab es kleinere und größere Scharmützel. Als dann justament die Ungarn sich für einen Aufstand gegen die Habsburger anboten, nutzte ein ehrgeiziger Großwesir die Chance, verbündete sich mit ihnen und führte ein riesiges Heer gegen Wien. Große Teile Ostösterreichs wurden verwüstet. Der Kaiser verlor die Nerven, floh nach Passau und plante bereits seine neue Residenz in Regensburg. Im letzten Moment befreite der polnische König Jan Sobieski die Stadt unter Zuhilfenahme deutsch-österreichischer Assistenz. Gedankt wurde es ihm erwartungsgemäß kaum.

Die Geschichte emotionalisiert bis in die heutige Zeit. In Wien wird man allerorten an die kriegerischen Ereignisse erinnert. Die folkloristische Überlieferung erzählt auf den ersten Blick von grimmigen Barbaren mit langen Schnurrbärten, von Hellebarden und Musketen im Kampf gegen Krummsäbel und Reflexbögen, von Fahnen und Pulverdampf.

Tatsächlich jedoch transportieren die Sagen und Legenden Bilder, die uns aus aktuellen Kriegsgebieten bekannt erscheinen: vom Leiden der Bevölkerung, von Massakern, Folter und Vergewaltigung. Spuren eines kollektiven Traumas, das auch noch über Jahrhunderte hinweg spürbar wird. Spuren einer Zeit, in der Krieg und Gewalt gegen die anderen normal waren, eine verbreitete Quelle des saisonalen Nebenerwerbs, und die Rechnung dafür bezahlte zumeist die Landbevölkerung, die mal mit dem Krummsäbel, mal mit der Hellebarde massakriert wurde.

Sakrale Schilderung

Die detailreichen Schilderungen in Briefen und Pfarrchroniken ähneln den Schilderungen jener Menschen, die Stacheldrähte und Mauern der "Festung Europa" überwinden müssen, um hierzulande Schutz zu finden vor brutaler Gewalt, vor Misshandlung und Versklavung. An diese Parallele im Rahmen eines Feiertags zu erinnern, wäre ja durchaus ein ehrenwertes Vorhaben. Der Soziologe Maurice Halbwachs meinte, jede Gemeinschaft schaffe die Vergangenheit, die sie für das eigene Selbstbild brauche. Das tue sie über Symbole, über Zeichen und über die Interpretation historischer Ereignisse.

Die jüngere europäische Geschichte ist durch das Bemühen geprägt, eine Identität zu entwickeln, die nicht auf Kriegsbildern von Helden mit Schwertern, sondern auf den Bildern von Helden mit Pflugscharen beruht, nämlich genau jenen Bauern und Bürgern, denen 1683 als Erste die Köpfe abgeschlagen wurden. Krieg als sakrale Schilderung hingegen, als naives "Wir gegen die anderen", ist schlicht eine Negierung menschlichen Leids. Aber warum nicht genau daran erinnern, was die Türkenbelagerung und die Ereignisse von 1683 wirklich erzählen? Nämlich vom sinnlosen Leiden und Sterben in einer Gesellschaft, in der Krieg und Gewalt normal und unhinterfragt blieben.

Eine der ersten Maßnahmen der Wiener Verteidiger des Jahres 1683 war übrigens die rigide Durchsetzung von Bestimmungen der Infektionsordnung, um Krankheiten und Seuchen in der belagerten Stadt zu vermeiden. Ob diese Bemühungen auf die Unterstützung der rechtspopulistischen Verteidiger des Abendlandes gestoßen wären, sei dahingestellt. (Daniel Zipfel, 27.9.2023)