Wie viele reguläre Lehrkräfte fehlen, beziffert das Bildungsministerium nicht.
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An einem Tag stehen sie an der Tafel, am anderen büffeln sie selbst für Prüfungen. In der Debatte rund um den Personalmangel an Schulen – und auch am Weltlehrerinnentag diesen Donnerstag – werden sie aber oft vergessen. Die Rede ist von jenen Lehrkräften, die bereits vor Abschluss ihrer Ausbildung, manche teils sogar ohne Bachelor, Schulklassen unterrichten.

Zwar wird Bildungsminister Martin Polaschek nicht müde zu betonen, dass der Schulstart im September gut verlaufen sei und alle Stunden gehalten werden. Allein regulär ausgebildetes Personal konnte die mehr als 7.000 Stellen an allen Schulen, die laut dem Ministerium für das Schuljahr 2023/24 besetzt wurden, nicht abdecken. "Ohne Studierende, Überstunden und Quereinsteiger wäre der Schulstart in einer Situation des öffentlichen Lehrkräfte- und Personalmangels nicht machbar gewesen", heißt es vonseiten des Bildungsministeriums. Wie viele reguläre Lehrkräfte tatsächlich fehlen, beziffert das Ministerium nicht.

Wer nebenbei arbeitet, studiert länger

Dass viele bereits unterrichtende Lehrkräfte in Österreich ihr Bachelor- oder Masterstudium noch nicht abgeschlossen haben, hat aber nicht nur mit dem akuten Personalmangel zu tun. Auch das 2015/16 reformierte Lehramtsstudium – die Ausbildung wurde vereinheitlicht und verlängert – hat die Zahl noch studierender Lehrkräfte in die Höhe schnellen lassen. Derzeit können alle Lehramtsabsolventen nach ihrem vierjährigen Bachelor zum regulären Gehalt an Schulen unterrichten. Wollen Studierende unbefristet an mittleren und höheren Schulen – und dort auch in Oberstufen – arbeiten, müssen sie für das Masterstudium zwei weitere Jahre einplanen (siehe Grafik). Gelebte Praxis ist, den Master berufsbegleitend zu absolvieren. Zahlen dazu gibt es nicht – aber eine Näherung: Im Studiengang Inklusive Pädagogik etwa sind laut einer internen Umfrage 95 Prozent der Masterstudierenden parallel berufstätig, 90 Prozent davon an Schulen.

Die Mindeststudienzeit für angehende Lehrkräfte beträgt sechs Jahre, zu unterrichten beginnen sie oftmals schon davor.
Grafik: Fatih Aydogdu

Nur: Wer nebenbei arbeitet, studiert tendenziell länger. Offizielle Inskriptionszahlen zeigen, dass viele Masterstudierende nicht in zwei Jahren abschließen. Tatsächlich hat sich die Anzahl der inskribierten Studierenden für mittlere und höhere Schulen in den vergangenen vier Jahren mehr als verdreifacht. Schaffen die angehenden Lehrkräfte ihren Abschluss nicht binnen acht Jahren, kann ihnen dem Dienstrecht nach sogar eine Kündigung drohen. Angesichts der derzeitigen Engpässe an Österreichs Schulen ist diese Konsequenz aber recht unwahrscheinlich.

Einsatz mit Augenmaß 

Im Gespräch mit dem STANDARD empfiehlt Bildungsminister Polaschek, vor allem Studierende in fortgeschrittenen Semestern mit "Augenmaß" und "Unterstützung" an Schulen zu schicken. Dass nun auch immer mehr Bachelorstudierende in Klassen stehen, ist für Polaschek eine "absolute Ausnahmesituation" – zumal Lehrkräfte ohne akademischen Abschluss mit Gehaltsabschlägen rechnen müssen.

Laut einer Anfragebeantwortung des Bildungsministeriums an die Neos im heurigen Juni hatten neun Prozent aller Lehrkräfte an höheren Schulen mit einer Berufserfahrung von weniger als zehn Jahren keinen akademischen Titel – darunter dürften auch einige Bachelorstudierende fallen. Unterm Strich heißt das: An Österreichs Schulen unterrichten immer mehr lediglich halb ausgebildete Lehrkräfte immer früher – und, um Lücken zu füllen, oft auch mehr als angedacht. Eine Kombination, die sich sowohl auf die Qualität des Unterrichts als auch auf den eigenen Studienerfolg auswirkt.

Quereinsteiger und Überstunden

Als weitere Unterstützung an Mittelschulen und Gymnasien versuchen sich seit September übrigens erstmals auch 600 Quereinsteiger. Das Modell für spätberufene Lehrende aus anderen Berufsgruppen sieht ein dreistufiges Zertifizierungsverfahren und ein berufsbegleitendes zweijähriges Studium vor. Voraussetzungen sind ein abgeschlossenes Bachelorstudium und mindestens drei Jahre Berufserfahrung.

Und dennoch: Ein nicht unerheblicher Teil des Personalmangels an Schulen wird immer noch durch Überstunden abgefangen. Im Jahr 2021/22 unterrichteten alle Lehrkräfte in Österreich 6,1 Millionen Zusatzstunden.

Was erzählen studierende Lehrkräfte aus ihrem Alltag?

1. Ein Uni-Seminar und 17 Klassen

Zählt man die Anzahl der Klassen, hält Melanie, die eigentlich anders heißt, im vergangenen Schuljahr wohl einen schulinternen Rekord an ihrem Gymnasium. Mehr als 350 Schülerinnen und Schüler, insgesamt 17 Klassen, hat sie in ihren Fächern Bildnerische Erziehung und Technisches/Textiles Werken benotet – unterrichten konnte sie nicht alle. "Eine Klasse habe ich nie gesehen, da ich zeitgleich eine andere Klasse unterrichten musste. Ich habe versucht, mithilfe von Arbeitsaufträgen zu benoten”, sagt die 29-Jährige. Für ihren Master hatte Melanie wenig Zeit. Dennoch konnte sie – und darauf sei sie stolz – im Sommersemester zumindest eine Lehrveranstaltung absolvieren.

Vor fast vier Jahren, damals war Melanie noch im Bachelor, hat sie eine Vollzeitvertretung übernommen. „Schleichend" seien im Laufe der Jahre immer mehr Aufgaben und Stunden dazukommen: „Ich bin ein sehr praktisches Vehikel für die Schule – jung und voller Energie.“ Gleichzeitig konnte die Studentin aber die Inhalte, die sie an der Uni lernen musste, nicht an der Schule anwenden. Die Doppelbelastung hat ihre Spuren hinterlassen. Melanie litt vermehrt an Migräne, wurde geräuschempfindlich. Mittlerweile ist die Studentin in ihrem dritten Masterjahr. Um ihren Abschluss in den kommenden zwei Semestern zu schaffen, hat sie ihr Arbeitspensum an der Schule reduziert – und ihren freien Tag mit Uni-Seminaren gefüllt.

Nastassja unterrichtet erst seit zwei Semestern ihr Fach Biologie.
Heribert Corn

 2. Alles auf Anfang

Für Nastassja war eine E-Mail, in der unter Masterstudierenden aktiv nach einer Lehrkraft gesucht wurde, ihre Chance. Im Frühjahr ist die 26-Jährige mit einer halben Lehrverpflichtung als Vertretung für eine Biologielehrerin an einem Wiener Gymnasium eingestiegen. Auf reguläre Bewerbungen hat sie bis heute keine Rückmeldung erhalten. "In den ersten Wochen als Lehrerin fängst du bei null an", erzählt Nastassja. "Ich lerne auch in meinem zweiten Semester in der Schule immer noch mehr, als ich beibringe." Seitdem weiß sie auch: Zwei Jahre für den Master werden es nicht. Bis sie den Abschluss in der Tasche hat, werde es sicher zusätzlich zwei Semester dauern, so die Studentin.

Überschneidungen zwischen der eigenen Unterrichtszeit und den Masterkursen sind dabei Stolpersteine. Ihre Praxisstunden in Psychologie und Philosophie hat Nastassja daher auf das Sommersemester verschieben müssen. Da sie einer Anstellung in ihrem Zweitfach Psychologie und Philosophie wenig Chancen einräumt, denkt sie auch über eine Zusatzausbildung für digitale Grundbildung nach. Aber stressen lassen will sie sich trotzdem nicht: "Einerseits will ich den Master so schnell wie möglich abschließen. Andererseits will ich aber nicht alles von mir opfern. Das ist es mir nicht wert."

Annika ist vor ihrer letzten Bachelorprüfung in die Schule eingestiegen
Heribert Corn

3. Ganz oder gar nicht

Ganz oder gar nicht hat es für Annika vor zwei Jahren geheißen. Kurz vor ihrer letzten Bachelorprüfung musste sich die Studentin zwischen einer vollen Lehrverpflichtung an einer Wiener AHS in den Fächern Chemie und Mathematik und ihrem Masterstudium entscheiden. "Es war klar, dass ich mein Studium ein Jahr pausieren werde, wenn ich mit so vielen Stunden zu unterrichten beginne. Sonst wäre ich untergegangen", sagt die 26-Jährige. Mittlerweile ist Annika Klassenvorständin, Vollzeit arbeitet sie noch immer.

Seit bald drei Semestern besucht sie aber auch wieder Masterkurse an der Universität, deren Sinnhaftigkeit sie hinterfragt: Vor allem in den Fachgegenständen Mathematik und Chemie sei das Niveau zu vertieft, sagt die Studierende. Von ihrer Praxiserfahrung weiß sie: Die gelernten Hochschulinhalte könnten in der Form nicht an Schulen unterrichtet werden. Dem Nebeneinander von Uni und Unterricht ist auch ihr Hobby als Fußballtrainerin zum Opfer gefallen. Ein Ende der Doppelbelastung ist für die Lehrerin aber in Sicht. Ihre Abschlussarbeit hat Annika bereits begonnen. Da dafür unter dem Schuljahr nicht viel Zeit bleiben wird, sind ihre kommenden Sommerferien schon zum Lernen verplant. (Anna Wiesinger, 5.10.2023)