Papa und Sohn stehen in der Küche und sortieren Eierkartons
Mal bei Papa, mal bei Mama. Beim Wechselmodell hält sich das Kind annähernd gleich viel bei beiden Elternteilen auf. Das erfordert viel Planung und Flexibilität aller Familienmitglieder.
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Das Familienrecht soll reformiert werden. Dies wurde schon vor drei Jahren von der türkis-grünen Regierung angekündigt. Wann, war bis dahin unklar. Die Inhalte der geplanten Reform wurden seither von Kinderschutzvereinen, Alleinerziehenden, Frauenorganisationen und Fachleuten aus der Wissenschaft und Praxis heftig debattiert.

Ende September berichtete der ORF dann erstmals über die konkrete Umsetzung der Familienrechtsreform; es scheint also nach vielen Turbulenzen doch noch in dieser Legislaturperiode ernst zu werden. Die Rechtssoziologin Brita Krucsay erklärt, was die neuen Obsorge- und Kontaktrechtbestimmungen für Familien bedeuten.

STANDARD: In der Novelle steht einerseits die automatische Obsorge, in Zukunft als elterliche Verantwortung bezeichnet, auch bei nichtverheirateten Paaren mit gemeinsamem Wohnsitz. Andererseits wird das Lebensmodell der Doppelresidenz gesetzlich verankert. Wie ist zu erklären, dass beide Punkte – trotz sehr viel Widerstands in der Vergangenheit – nun doch umgesetzt werden?

Krucsay: Es verwundert mich wenig, dass die Doppelresidenz weiter gepusht werden soll – selbst wenn sie noch nicht zur Verpflichtung wird wie in anderen Ländern. Sie ist ein Konzept, auf das sich Vertreterinnen ansonsten weltanschaulich sehr verschiedener Sichten einigen können. Gerade diese auffallende Einigkeit, die damit begründet wird, dass sich endlich die reine und gänzlich unideologische Vernunft durchgesetzt hat, sollte uns hellhörig werden lassen. Im Zusammenhang mit der Doppelresidenz habe ich stark den Eindruck, dass der Markt dahintersteckt.

STANDARD: Von welchen Gruppen sprechen wir?

Krucsay: Es gibt einerseits die Zustimmung von weiten Teilen der Linken, die sich für diese scheinbar moderne Lebensform einsetzen. Sie würden sich selbst als progressiv und aufgeschlossen bezeichnen. Diese Gruppierung argumentiert nicht zuletzt damit, feministischen Prinzipien zu folgen, wenn sie gleiche Betreuungszeiten für getrennte Väter und Mütter fordert. Kern dieser Argumentation ist die Umsetzbarkeit von Erwerbstätigkeit, und zwar möglichst in Vollzeit – für beide Elternteile. Aber auch rechte bzw. konservativ-reaktionäre Gruppen oder die sogenannten Väterrechtler sind an der Durchsetzung dieses Lebensmodells interessiert. Sie stehen für den Erhalt patriarchaler Strukturen. Mit dem Wechselmodell wird eindeutig die Position des biologischen Vaters gefestigt.

STANDARD: Warum ist diese Einigkeit kritisch zu sehen? In anderen Worten, was ist so schlecht an der Doppelresidenz?

Krucsay: Es wird übersehen, dass dieses Lebensmodell einen unglaublichen Mehraufwand an Arbeit und natürlich große zusätzliche finanzielle Lasten bedeutet. Ein Beispiel aus der Praxis: Es regnet, bei Doppelresidenz-Eltern gibt es vermutlich zwei Regenjacken, in jeder Wohnung eine. Nun geht das Kind morgens mit der Regenjacke in die Schule und von dort zum anderen Elternteil; Mama oder Papa und wohl auch das Kind müssen nun darauf achten, dass die Jacke auch wieder zurückkommt. Der gesamte Alltag ist damit extrem fehleranfällig und muss ständig minutiös geplant und gemanagt werden: Jede noch so banale Handlung wird zu einer potenziell folgenreichen Transaktion, die weiteren Organisations- und Abstimmungsbedarf nach sich zieht.

STANDARD: Doppelresidenz-Befürworter wie etwa der Wiener Universitätspsychologe Harald Werneck würden entgegnen, dass Kinder so früh lernen, selbständig zu sein.

Krucsay: Ich rede hier nicht von altersadäquater Selbstständigkeit. Ein derartiger Alltag ist nur mit großer Selbstdisziplinierung und Selbstführung zu schaffen. Alle Beteiligten sind permanent damit beschäftigt, sich selbst zu beobachten und nach Effizienzkriterien zu optimieren. Das ist typisch für die Durchsetzung eines kapitalistischen Regimes, das sich gleichzeitig auf individuelle Freiheit beruft. Der zentrale Wert ist nun Flexibilität. Diese wird auch den Kindern aufgezwungen. Dass das Flexibilitätsprinzip das Kontinuitätsprinzip abgelöst hat, ist nicht auf das Kindschaftsrecht beschränkt, sondern spiegelt kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Verhältnisse, die eng mit unserer Produktionsweise verknüpft sind.

STANDARD: Sie meinen also, die Doppelresidenz ist eine Art "Training" für die moderne Arbeitswelt?

Krucsay: Genau, die Kinder werden früh an die Arbeitszeiten ihrer Eltern angepasst, die nun beide – so auch eine zentrale Argumentation – Vollzeit im Job sein können bzw. sollen. Dabei auch immer flexible Arbeitszeiten vorausgesetzt. Man muss schon sehen, dass die Problemstellung der Sorgerechtsstreitigkeiten zwischen Vätern und Müttern mit der Inklusion der Frauen in den Arbeitsmarkt in den vergangenen fünfzig Jahren aufgekommen ist. Insofern ist es kein Zufall, dass, wie schon angesprochen, Verfechterinnen der Doppelresidenz gerne auf deren Betreuungspotenzial für die Berufstätigkeit von Müttern verweisen. Dass Kinder eventuell das Bedürfnis nach einem gewohnten Zuhause haben, dass sie ihr Spiel vom Vortag fortsetzen möchten, dieselben Freunde aus der Umgebung wiedertreffen, im selben Zimmer einschlafen wollen, ist vor diesem Hintergrund gar nicht diskutabel.

STANDARD: Was erhoffen sich die erwähnten konservativ-reaktionären Gruppen von der Doppelresidenz?

Krucsay: Ideologisch betrachtet orientieren sie sich am "Mythos der Triade". Ich sage Mythos, weil der psychologisch-pädagogische Diskurs zur Scheidung bestimmte kulturell gewachsene Konstellationen, so wie die bürgerliche Kleinfamilie, als natürliche Voraussetzung darstellt. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass diese Betrachtungsweise eine unhinterfragte Vormachtstellung, quasi ein Absolutum in Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren erlangt hat. Es gilt als etabliertes Wissen, dass ein Kind nur im Fortbestand der kleinfamiliären Konstellation Mutter, Vater, Kind psychisch gesund aufwachsen kann.

STANDARD: Woran kann man erkennen, dass es sich dabei um etabliertes Wissen handelt?

Krucsay: Dieses Wissen wird heute selbstverständlich durch die entsprechenden Institutionen wie Familiengerichtshilfe, Kinderbeistand, auch Jugendamt durchgesetzt und den diversen Berufsgruppen in ihren Ausbildungen vermittelt. Das Recht auf Kontakt ist schon längst zur Pflicht zum Kontakt geworden. Ähnlich wie der Schulbesuch steht es nicht zur Disposition. Sogar in Fällen von Gewalt gegenüber dem Kind, so kann man nachlesen, müsse man in vielen Fällen alles daransetzen, dass der Kontakt zum gewalttätigen Elternteil bestehen bleibt.

STANDARD: Seit wann gibt es diese Rechtsentwicklung?

Krucsay: Die Novelle von 2001 (KindRÄG) war ein wesentlicher Schritt in diese Richtung. Noch einschneidender war jedoch die letzte Reform 2013 (KindNamRÄG). Spätestens seit damals wird das Kindeswohl hauptsächlich über den "Kontakt zu beiden Eltern" definiert.

STANDARD: Aber es steht doch außer Streit, dass Kindern nach der Trennung der Kontakt zu beiden Elternteilen guttut.

Krucsay: Natürlich, aber es wird leider weitgehend außer Acht gelassen, wie dieser Kontakt ist. Alle Kinder scheinen gegenüber ihren beiden Elternteilen das gleiche universelle Bindungsbedürfnis zu haben, ganz gleich wie ihre eigenen bisherigen Erfahrungen mit ihnen waren. Wenn es also Konflikte gibt, so muss das am Loyalitätskonflikt, an Bindungsabbruch, Entfremdung etc. liegen. In Sorgerechtsstreitigkeiten geht es primär darum, die Eltern dahingehend zu disziplinieren, dem Kind den jeweils anderen Elternteil im positiven Licht zu präsentieren, unabhängig von der dahinterliegenden Geschichte und den alltäglichen Erfahrungen, mit denen man konfrontiert ist. All das, um die mythische Triade zu erhalten. Was wir bräuchten, wäre eine Diskussion über die Frage, was wir als Gesellschaft als Kindeswohl sehen, denn momentan zwingt das Recht fast alle Nachtrennungsfamilien durch dieses Nadelöhr. Vermutlich wird sich das durch das neue Gesetz weiter verschärfen.

STANDARD: Im neuen Gesetz soll ein weiterer Player, der Kinderbeistand, sehr gestärkt und zur Verpflichtung in Fällen von Gewalt werden. Was sagen Sie dazu?

Krucsay: Ohne hier die Institution Kinderbeistand an sich zu bewerten, bringt die Installation bzw. der Ausbau jeder weiteren Berufsgruppe die ganz grundsätzliche Frage mit sich, wie viele Institutionen in Verfahren beteiligt sein sollen. Seit den späten 1990er-Jahren finden immer mehr unterschiedliche psychosoziale Werkzeuge und Professionen Eingang ins Kindschaftsrecht. Die Verfahren sind dadurch nicht wirklich einfacher oder kürzer geworden, eher im Gegenteil. Was die Betroffenen erleben, ist häufig ein kafkaesker "Betreuungsmarathon". Eltern müssen viele Male dasselbe berichten, sind mit einer Vielzahl an heterogenen Expertenmeinungen und häufig nicht durchschaubaren Abläufen konfrontiert.

STANDARD: Was macht das mit den Eltern?

Krucsay: Das Ganze fühlt sich an wie eine permanente Prüfungssituation, in der man ständig Angst haben muss, etwas falsch zu machen. Auch hier gilt also das Diktat permanenter Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle. Das Ganze ist eigentlich paradox – die Psy-Professionen ermutigen die Eltern, offen zu sprechen; in Wahrheit haben jedoch die Personen die besten Karten, die strategisch geschickt agieren bzw. vorwegnehmen, was von ihnen erwartet wird. Eltern brauchen also durch die Zuschaltung der Psy-Disziplinen spezifische Fähigkeiten in den Verfahren, die gar nichts mit ihren elterlichen Kompetenzen zu tun haben. Sie müssen authentisch und emotional wirken; aber auch nicht zu emotional. Sie haben bessere Karten, wenn sie sich artikuliert und reflektiert geben, aber auf keinen Fall widerständig gegenüber den Psy-Vorgaben. Um all das zu schaffen, gibt es mittlerweile einen eigenen Markt an Gerichtscoachings.

STANDARD: Was passiert mit der inhaltlichen Ebene?

Krucsay: Ähnlich wie beim Kindeswohl wird auch zwischen den Eltern alles auf die Emotionsebene verschoben; gibt es Schwierigkeiten, egal welcher Art, muss das an dem Verwechseln von Paar- und Elternebene liegen. Dies bringt die Gefahr mit sich, inhaltliche Kritik am Erziehungsstil des anderen Elternteils per se auszuhebeln. Solch eine Kritik erscheint dann als Nichtkooperation und kann entsprechend sanktioniert werden.

STANDARD: Aber welche Lösung oder Verbesserung könnte es denn für die Einschaltung der vielen Institutionen und die damit einhergehende Verwirrung geben?

Krucsay: Die Intransparenz ist ins System eingeschrieben, wenn Eltern im Rahmen eines Verfahrens bis zu sieben verschiedene Institutionen durchlaufen müssen, die sich alle gegenseitig Informationen zuspielen. Ähnliche Erfahrungen können wir im Gesundheitsbereich, im Schulwesen und eben in der psychorechtlichen Bearbeitung von familiären Konflikten machen: Es gibt viele Spezialisierungen, viele verschiedene Abteilungen und Professionen, die irgendwie befasst sind, aber letztendlich ist keine konkrete Person auszumachen, die zuständig oder umfassend verantwortlich ist. Die Tatsache, dass wir nicht ganz unwesentliche Teile unserer Lebenszeit damit zubringen, umherzuirren, vermittelt uns den Eindruck, selber schuld an unserer Desorientierung zu sein.

STANDARD: Wo hätte die Diskussion über die Reform des Kindschaftsrechts Ihrer Meinung nach ansetzen müssen?

Krucsay: Die Diskussion um Obsorgemodelle verdeckt, dass verabsäumt wurde, grundlegende Überlegungen anzustellen, wie Familie heute überhaupt funktionieren kann und für alle Generationen lebbar ist. Da geht es ganz basal um die Frage, welche Rahmenbedingungen wir brauchen, um uns adäquat umeinander zu kümmern. Die Diskussion um bezahlte und unbezahlte Arbeit, um den gesellschaftlichen Stellenwert und die Relevanz von Sorge, von Hausarbeit und von Erwerbsarbeit.

Bevor also hochkomplizierte Kontaktrechtsmodelle für Nachscheidungsfamilien konstruiert werden und diskutiert wird, ob der vormals wenig präsente Vater sich nach der Scheidung nun doch für die gleichanteilige Betreuung des Kindes qualifiziert, müsste überlegt werden, warum das davor nicht geklappt hat. Und da geht es eben nicht um die gerne beschworenen sogenannten Geschlechterrollen, die wir doch bitteschön alle in Eigenregie verändern sollen, sondern tatsächlich um materielle Rahmenbedingungen. (Dagmar Weidinger, 12.10.2023)