Spekulationen gab es schon lange, nun ist das Geheimnis gelüftet: Othmar Karas, ÖVP-Europaabgeordneter und Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments, wird bei der EU-Wahl im Juni 2024 nicht mehr für die ÖVP ins Rennen gehen – und auch nicht mit einer eigenen Liste antreten. Das gab er am Donnerstag im Rahmen einer "persönlichen Erklärung" bei einer Pressekonferenz bekannt.

Videoerklärung von Othmar Karas: "Mir geht es auf die Nerven, von manchen als Linker tituliert zu werden"
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"Nach 25 Jahren im EU-Parlament werde ich bei den kommenden Wahlen nicht mehr kandidieren. Das ist keine einfache Entscheidung für mich, sie tut auch weh", sagte Karas. Der 65-Jährige begründete diesen Schritt mit dem Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Partei.

Die vergangenen Monate seien "menschlich enttäuschend " gewesen. Wie die Bundespartei mit ihm umgegangen sei, sei einer staatstragend Partei "unwürdig". Karas nannte als Beispiel, dass ihn ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker als Saboteur bezeichnet habe. Er beklagte außerdem den Stil, der öffentlich Einzug gehalten habe, dieser sei "nicht akzeptabel" und widerspreche auch seinem persönlichen Selbstverständnis. Und er betonte, sich dem Land und nicht nur einer einzelnen Partei verpflichtet zu fühlen.

Kritik an "Scheindebatten"

Karas scherte in der Vergangenheit immer wieder aus der Parteilinie aus, in letzter Zeit mehrten sich die Differenzen mit der ÖVP. Meinungsverschiedenheiten richtete Karas der ÖVP regelmäßig auch öffentlich aus, was in der Volkspartei freilich alles andere als gut ankam. Auch am Donnerstag fand er scharfe Worte in Richtung ÖVP. So bemängelte Karas etwa die Rolle der Volkspartei in Europa und deren Standpunkt in Sachen Asyl und Migration. Dass er von manchen innerhalb seiner Partei als Linker tituliert werde, "weil ich dafür eintrete, dass Frauen und Kinder nicht im Mittelmeer ertrinken", gehe ihm "unheimlich auf die Nerven". Die ÖVP sei "nicht mehr dieselbe Europapartei, die ich einst mitgestaltet habe".

Auch kritisierte Karas die "sinnlose Polarisierung", die von der ÖVP als "strategisch notwendiger Unsinn" bezeichnet werde, "wobei am Ende nur der Unsinn überbleibt". Zudem missfallen Karas diverse "Scheindebatten" wie etwa jene, das Recht auf Bargeld in der Verfassung zu verankern. Diese wurde von ÖVP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer angestoßen. Mit derlei Debatten würde man "mit den Sorgen der Menschen spielen".

Othmar Karas wird weder für die ÖVP noch mit einer eigenen Liste bei der EU-Wahl im Juni 2024 antreten.
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Er sei immer "aus Überzeugung" seinen Weg gegangen und habe "nicht geschwiegen, wenn ich in manchen Fragen anderer Meinung war". Denn "das muss eine demokratische Partei aushalten".

"Vom Motor zum Bremser"

Auch insgesamt zeigte sich Karas mit der österreichischen Politik alles andere als zufrieden. So beklagte er etwa das "politische Versagen in vielen zentralen Feldern" und eine "mangelnde Debattenkultur". Und er kritisierte unter anderem die Anbiederung der etablierten Parteien an die politischen Ränder. Die politisch Handelnden hätten "jegliche Glaubwürdigkeit verloren" und mit ihrer Politik einen "nachhaltigen Schaden" verursacht.

Besonders schmerzhaft sei für ihn die veränderte Rolle Österreichs in der EU. Das Land sei "vom Motor zum Bremser" geworden und würde mit dem Finger auf Brüssel zeigen. Unverständnis äußerte Karas etwa für das Schengenveto gegen Rumänien und Bulgarien, die halbleeren Reihen der SPÖ bei der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Nationalrat und die "unverschämte antieuropäische Politik der FPÖ".

Antritt bei anderer Wahl?

Seine politische Zukunft ließ Karas hingegen offen. Ob er im kommenden Jahr bei der Nationalratswahl mit eigener Liste oder gar bei der Hofburg-Wahl 2028 antreten werde, beantwortete er nicht. Er habe "heute eine erste persönliche Entscheidung bekannt gegeben", wolle "politisch aktiv" und ÖVP-Mitglied bleiben. Auch seine Funktion als Erster Vizepräsident werde er bis zur Wahl im Sommer weiterhin ausüben. "Alles weitere wird sich zeigen."

Karas ist ohne Zweifel ein prominenter EU-Abgeordneter und ÖVP-Politiker: Er war Bundesobmann der Jungen Volkspartei, schwarzer Generalsekretär, 1983 wurde er in den Nationalrat gewählt. Seit 1999 sitzt er für Österreich im EU-Parlament. Der 65-Jährige ist seit über einem Jahr Erster Vizepräsident des EU-Parlaments und einer der längstdienenden Abgeordneten in Brüssel und Straßburg.

SPÖ wirbt um "Christlich-Soziale"

Vertreterinnen und Vertreter von SPÖ, Neos und Grünen zollten Karas für seine Entscheidung Respekt. SPÖ-Chef Andreas Babler nahm diese zum Anlass, um auf X (vormals Twitter) um alle "Christlich-Sozialen", die sich mit Karas von der ÖVP verabschieden wollen, zu werben. Er lade diese ein, "ein Stück des Weges mit der SPÖ zu gehen", schreibt Babler. "Othmar Karas war einer der letzten hochrangigen Christlich-Sozialen in der ÖVP, er sieht in ihr keine Heimat mehr." Für Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger ist Karas eine eine "seit fast 25 Jahren geschätzte und konstruktive Stimme Österreichs im Europäischen Parlament". Grünen-Delegationsleiterin Monika Vana nannte Karas einen "glaubwürdigen Pro-Europäer". FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz wittert in der Entscheidung einen "Zerfalls- und Spaltungsprozess der ÖVP".

Die Volkspartei hingegen nahm den Schritt in einer knappen Stellungnahme zur Kenntnis. Generalsekretär Christian Stocker wünschte Karas für "seine persönliche Zukunft alles Gute" und betonte, dass es nichts Neues sei, "dass sich die Positionen der Volkspartei sowie jene von Othmar Karas insbesondere in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt haben".

Wer für die ÖVP als Spitzenkandidatin oder Spitzenkandidat bei der EU-Wahl antreten wird, ist indes noch nicht bekannt. Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) wollte ein Antreten auf Nachfrage zumindest nicht ausschließen. "Das habe nicht ich zu bestimmen, das entscheiden die Gremien der Volkspartei", sagte Plakolm am Donnerstag im Rahmen einer Pressekonferenz. Für die Entscheidung der Parteigremien über die Frage, wer für die Partei ins Rennen geht, sei "noch viel Zeit". (Sandra Schieder, 12.10.2023)