Porträtbild Ursula von der Leyen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die EU-Wirtschaft bei der Dekarbonisierung unterstützen.
Foto: Andreas Chudowski / laif

Im Dezember 1988, sieben Wochen ­nachdem erstmals eine Ausgabe des STANDARD über die Theken der Trafiken gegangen war, traf die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Entscheidung von weitreichender Wirkung. Sie unterstützte die Gründung des "Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen", heute besser bekannt als Weltklimarat.

Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass es damals noch keineswegs Konsens war, dass der Klimawandel menschengemacht und von großem Schaden für die Menschheit sei. Die fundierten Berichte des Weltklimarats rütteln die Weltöffentlichkeit seitdem in regelmäßigen Abständen auf. Sie markieren mit wissenschaftlicher Evidenz und für die politische Diskussion unverzichtbar den Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit im globalen Kampf gegen die Erderwärmung. An der Analyse mangelte es übrigens auch damals nicht. Die UN-Generalversammlung hielt bereits 1988 fest, dass der Klimawandel die gesamte Menschheit betrifft und rasche Gegenmaßnahmen auf globaler Ebene angezeigt sind.

Überhitzter Planet

Heute, 35 Jahre später, leben wir auf einem überhitzten Planeten. Die Erderwärmung schreitet schneller voran als in vielen Zwischenberichten vorhergesagt. Die dramatischen Folgen kennen wir alle. In Griechenland tobten im August verheerende Waldbrände. Auf das Feuer folgte die Flut: Es regnete an nur drei Tagen so viel wie sonst in drei Jahren. Ähnliche Wetterphänomene treten von Libyen bis Slowenien, von Spanien bis zu den Philippinen auf.

Auch Österreich hat immer häufiger mit Extremwetter zu kämpfen: Anfang August standen Teile Kärntens, der Südsteiermark und des Südburgenlands infolge heftiger Regenfälle unter Wasser. Hangrutschungen und Murenabgänge bedrohten ganze Ortschaften. Dem Neusiedler See wiederum machen regelmäßig niedrige Pegelstände zu schaffen. In den Alpen werden Skigebiete längst künstlich beschneit. Österreichische Gletscher sind in der Messperiode 2021/22 im Durchschnitt um 29 Meter kürzer geworden. Die gewaltige Pasterze am Fuße des Großglockners zog sich laut dem Alpenverein sogar um 87 Meter zurück.

Fahrplan für die Klimawende

Der Weltklimarat hat im März dieses Jahres die Weltgemeinschaft erneut zur Eile angetrieben. Andernfalls werde es immer schwieriger, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, worauf sich die Staatengemeinschaft verständigt hatte. Wichtiger noch ist mir eine andere Botschaft: Die Experten betonten, dass wir unseren Kindern und Enkeln immer noch eine lebenswerte Zukunft auf unserem Planeten sichern können, wenn wir endlich entschlossen handeln.

Europa hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt und eine inzwischen weltweite Dynamik in Gang gebracht. Im Dezember 2019 haben wir den Europäischen Grünen Deal vorgestellt. Er ist unser Fahrplan. Die 27 Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament haben sich dazu verpflichtet, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Die Klimaziele und Zwischenschritte sind im Europäischen Klimagesetz rechtlich verankert. Derzeit sind wir auf gutem Weg, unsere Zwischenziele nicht nur zu erreichen, sondern sogar zu übertreffen.

"Im vergangenen Jahr haben wir europaweit zum allerersten Mal mehr Strom aus Wind und Sonne erzeugt als aus Gas."

Der Europäische Grüne Deal entstand aus der Notwendigkeit, Mensch und Erde zu schützen. Aber er ist zugleich unsere neue Wachstumsstrategie. Die Europäische Union hat schon bewiesen, dass Wirtschaftswachstum und Klimaschutz Hand in Hand gehen können. 2022 sind die Treibhausgasemissionen um etwa 2,5 Prozent gesunken, während die Wirtschaft um 3,5 Prozent gewachsen ist. Allein die Zahl sauberer Stahlfabriken ist in den vergangenen fünf Jahren von null auf 38 gestiegen. Österreichs Voestalpine investiert 1,5 Milliarden Euro in moderne Elektrolichtbogenöfen, die ohne schmutzige Energie auskommen.

Natürlich kostet die Umstellung von schmutzigen Energiequellen auf einen neuen, saubereren Energiemix in einigen Mitgliedsstaaten mehr Kraft als in anderen. Aber es geht voran. Im vergangenen Jahr haben wir europaweit zum allerersten Mal mehr Strom aus Wind und Sonne erzeugt als aus Gas. Das ist nicht nur eine gute Nachricht für die Wirtschaft, weil heimische erneuerbare Energien mittelfristig deutlich preiswerter sind. Sie machen uns auch widerstandsfähiger und unabhängiger von unzuverlässigen Gaslieferungen etwa aus Russland.

"Die Investitionen in Europas Unabhängigkeit schaffen zehntausende neue Chancen auf dem gesamten Kontinent."

Solche Investitionen in Europas Unabhängigkeit verlangen uns einiges ab. Aber sie schaffen eben auch zehntausende neue Chancen auf dem gesamten Kontinent. Quer durch Europa und alle Branchen sind Unternehmen im Clean-Tech-Sektor erfolgreich. Kreislaufwirtschaft, unsere Gesundheit und naturschonende Produkte und Verfahren sind längst hochprofitable Geschäftsmodelle. Egal ob in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Verkehrswesen oder im Energiebereich: Wer schnell und gezielt investiert, kann sich einen Platz in dieser neuen Wirtschaft sichern. Und sie wächst rasant: Nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur wird sich allein das globale Marktvolumen für Serientechnologien für saubere Energie bis 2030 verdreifachen – auf rund 650 Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Globales Rennen

Das globale Rennen ist eröffnet. Unternehmen aus Europa sind heute Marktführer in vielen Bereichen des Clean-Tech-Sektors. Das gibt uns einen Startvorteil. Aber darauf können wir uns nicht ausruhen. Von Windkraft bis zu sauberem Stahl, von Batterien bis hin zu Elektrofahrzeugen: Bei allen internationalen Gipfeln steht sauberes und nachhaltiges Wachstum mittlerweile weit oben auf der Agenda. China hat im vergangenen Jahr so viele zusätzliche Windräder gebaut wie der ganze Rest der Welt zusammen. Die USA, Kanada, Japan, Südkorea und andere setzen voll auf Clean Tech als Wachstumstreiber. Die wichtigsten Industrieregionen der Erde haben den Hebel umgelegt.

Und das ist nicht allein ein ökologischer Umbruch. Es ist vor allem ein Aufbruch in ein neues wirtschaftliches Zeitalter. Rund um den Globus werden gewaltige Summen in neue, saubere Technologien investiert. Es geht um die besten Positionen an den Marktplätzen der Zukunft. Und die Regionen, die dabei die Nase vorn haben, werden ihren Wohlstand nachhaltig mehren. Für uns in Europa ist das Ziel ganz klar: Wir wollen, dass die starke Clean-Tech-Industrie hier bei uns in Europa noch stärker wird. Wir wollen sie als Motor für weiteres Wachstum und gute Arbeitsplätze hier bei uns. Dafür müssen wir uns anstrengen, und wir sind bereit dazu.

Europas Rolle

Wir haben innovative Unternehmen, die sich gerne dem Wettbewerb stellen. Unsere Aufgabe ist, für Fairness in diesem Wettbewerb zu sorgen und Steine aus dem Weg zu räumen. Einige Branchen kämpfen mit zähen Genehmigungsverfahren, andere mit übermäßigen Berichtspflichten. Viele haben Engpässe bei wichtigen Rohstoffen oder qualifizierten Arbeitskräften. Für etliche dieser Anliegen haben wir bereits gute Antworten. Für spezifische Probleme will Europa gerne helfen, maßgeschneiderte Lösungen zu finden. Deswegen führen wir jetzt Dialoge mit allen besonders betroffenen Branchen. Von Chemie über Automobilhersteller und Rohstoffraffinerien bis zur Glas- und Düngemittelindustrie. Den Auftakt haben wir kürzlich mit der Wasserstoffwirtschaft gemacht. Die Ergebnisse dieser Dialoge werden uns dabei helfen, die Klimaziele im engen ­Zusammenspiel mit den Unternehmen zu erreichen.

Der Europäische Grüne Deal stärkt auch die globale Führungsrolle und Verantwortung Europas bei einem Thema, dessen Auswirkungen die gesamte Menschheit betreffen. Wir müssen beim Klimaschutz global denken. Europa ist verantwortlich für acht Prozent der weltweiten Emissionen. Wir haben ein großes Interesse daran, Entwicklungs- und Schwellenländer dabei zu unterstützen, ihr enormes Potenzial für saubere Energie auszuschöpfen. Die Europäische Union leistet nach wie vor weltweit den größten Beitrag zur Klimaschutzfinanzierung.

"Nnur was sich messen lässt, wird erledigt."

Das reicht aber nicht für das Tempo, das wir brauchen. Die Volkswirtschaften des Globalen Südens wachsen sehr dynamisch. Es macht einen großen Unterschied, ob sie heute in Kohle, Öl und Gas investieren, um ihren Energiebedarf zu stillen, oder in erneuerbare Energien und nachhaltige Produktion. Deswegen sucht die Europäische Union gemeinsam mit Partnern weltweit nach neuen Wegen, um private Investitionen für nachhaltigen Fortschritt in diesen Ländern zu mobilisieren. Grüne Anleihen, die Bepreisung von CO₂-Emissionen und vertrauenswürdige CO₂-Gutschriften sind vielversprechende und erprobte Ansätze. Wenn die Staatengemeinschaft ab Ende November in Dubai zur Weltklimakonferenz zusammenkommt, wird das Thema ganz oben auf der Agenda stehen. Das gilt auch für den Vorschlag der Europäischen Kommission, globale Ziele für erneuerbare Energien und Energieeffizienz festzulegen. Denn nur was sich messen lässt, wird erledigt. In Dubai müssen wir die Weichen dafür stellen.

Die Chance nutzen

Der Europäische Grüne Deal ist eine Generationenaufgabe, die uns einen langen Atem abverlangt. Dass es bei der Frage nach den besten Umsetzungsschritten viele Meinungen und kontroverse Diskussionen gibt, gehört in einer Demokratie dazu. Schließlich betrifft es unsere Gesundheit, die Zukunft unserer Heimat und viele andere berechtigte Interessen. Was wir uns aber nicht leisten können, ist, bei den notwendigen Debatten über das Wie den eingeschlagenen Kurs zu vernachlässigen. Das können wir mit Blick auf die Natur und die Zukunft unserer Kinder nicht verantworten.

Ich bin überzeugt, dass uns gemeinsam die Wende zum Besseren gelingen kann. Wenn wir die Aufgaben fair und gerecht verteilen, wenn wir Lösungen zusammen mit unseren Unternehmen suchen, wenn wir die Anliegen und Ideen aufnehmen. Unser Leben entscheidet sich überall: nicht nur in den Ministerien und Behörden, sondern ebenso in Unternehmenszentralen, Start-ups und Werkstätten, auf unseren Feldern und in unseren Wäldern, in unseren Wohnräumen, in unseren Heizkellern und in unseren Einkaufswagen. Wir können handeln und haben noch eine Chance.

Lassen Sie uns diese gemeinsam als Europäerinnen und Europäer nutzen. (Ursula von der Leyen, 19.10.2023)