Die Jubelkundgebungen, die überall in Europa und auch in Österreich unmittelbar nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten und Zivilistinnen stattfanden, lösten berechtigtes Entsetzen und Empörung aus. Unmittelbar danach kamen auch die ersten populistischen Rufe: "Schmeißt sie alle raus!"

Auch wenn offener Antisemitismus und Freude über bestialisches Töten von Frauen und Kindern eine neue Dimension sind, gab es auf Wiens Straßen schon oft Demonstrationen und Kundgebungen, die globale, geografisch weit entfernte Kriege und Konflikte zum Anlass hatten. Seien es Demonstrationen während der Nato-Bombardierung Serbiens, Konflikte zwischen Kurden oder Türken, Pro-Erdoğan-Kundgebungen vor einigen Jahren. Darauf gab es in der öffentlichen Debatte verlässlich Kommentare und Forderungen folgender Art: "Keine Konflikte nach Österreich importieren!", "Alle abschieben!" oder "Das ist Integrationsversagen!"

Die angemeldete Kundgebung "Mahnwache für Palästina" der Organisation BDS Austria auf dem Stephansplatz in Wien wurde am Mittwoch, 11. Oktober, kurz vor Beginn untersagt.
APA/TOBIAS STEINMAURER

Aber ist es tatsächlich ein Integrationsversagen, und sind diese Konflikte "importiert"? Nicht unbedingt. Menschen sind auch nach Einwanderung oder Flucht über Jahrzehnte und Generationen hinweg an ihre Herkunftsgesellschaften oder jene ihrer Vorfahren gebunden. Sie haben eine Vergangenheit, verwandtschaftliche Beziehungen und Sprachkenntnisse, die in unterschiedlicher Intensität Teil der Identität bleiben. Das ist vor allem in Zeiten des schnellen und globalen Informationsaustausches ein Umstand, den man nicht wegdiskutieren kann. Menschen migrieren räumlich, aber nicht emotional.

Šta mi to treba?

Eine persönliches Beispiel: Jedes Mal, wenn im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien die politischen Spannungen steigen und ich tagelang immer wieder im Sumpf der brachialen Boulevardmedien versinke, verfluche ich meine Sprachkenntnisse und mein Interesse, aber auch die emotionale Gebundenheit. "Šta mi to treba?" (Was bringt mir das?), sage ich zu Freunden und Freundinnen, und dann reden wir doch noch ein Stündchen darüber, welcher Politiker auf dem Balkan gerade besonders schamlos und populistisch den Hass schürt.

Über den Wunsch nach Information hinaus gibt es aber natürlich auch noch die Emotionalisierung, Ressentiments und, ja, schlussendlich auch den Hass, der nicht bei der Einwanderung an der Landesgrenze abgegeben wird. Im Gegenteil. Im Laufe der Jugoslawienkriege radikalisierte sich zum Beispiel ein Teil der jugoslawischen Gastarbeiter-Community in einem erschreckenden Ausmaß entlang der ethnischen und religiösen Grenzen. Das gaben sie natürlich an Kinder und Enkelkinder weiter, ohne dass sie jemals unmittelbar an Konflikten "unten" aktiv beteiligt waren.

Hass im Klassenzimmer

Ist es also ein Integrationsversagen, wenn man sich für die politischen Vorgänge und Konflikte im Herkunftsland der Eltern interessiert? Wenn man Integration als Assimilation und totales Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft versteht, indem jegliche emotionale Bindung an die Herkunft gelöst wird, dann ist es wohl als "Versagen" anzusehen. Doch diese Art von Integration, beziehungsweise Assimilation ist eher illusorisch und wäre nur mit Repressionen durchsetzbar.

Doch was, wenn die Verbundenheit so weit geht, dass tausende türkeistämmige Wienerinnen und Wiener einem Autokraten wie Erdoğan zujubeln? Oder wenn serbische Jugendliche nach einem Fußballmatch nationalistische Parolen rufen? Oder wenn Lehrerinnen und Lehrer aus Wiener Schulen berichten, wie globale Konflikte die Klasssenzimmer beeinflussen: Offener Hass gegenüber dem jeweiligen Gegner im fernen Konflikt, religiöser Radikalismus, Antisemitismus. Hassrede? Ist das Integrationsversagen? Ich würde eher sagen, es ist noch dramatischer und verheerender: Es ist Demokratieversagen.

Dagegenhalten

Wir haben es verabsäumt dagegenzuhalten. Dagegenhalten und offener Widerspruch sind aber für uns als demokratische Gesellschaft alternativlos. Dagegenhalten und demokratische Werte vertreten, dagegenhalten und darauf beharren, dass in Österreich Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit hochgehalten werden, dass wir eine Gesellschaft sein wollen, die aus gleichwertigen und gleich würdigen Individuen besteht, und dass Solidarität über ethnische und religiöse Grenzen einen Wert hat.

Diese Werte als Gesellschaft selbstbewusst vor sich herzutragen, ist die beste Prävention. Dafür müssten sie aber auch in unserer Gesellschaft verfestigt, mehrheitsfähig, absolut unangreifbar sein und authentisch gelebt werden. Immer nur den Hass der anderen, den Antisemitismus der anderen oder eben die "importierten Konflikte" anlassbezogen zu verurteilen und zu diskutieren, ist zu wenig. (Olivera Stajić, 20.10.2023)