Ein Mann und eine Frau stehen mit dem Rücken zum Betrachter vor einem Meer von Gedenkkerzen.
Ein Paar gedenkt auf dem Dizengoff-Platz in Tel Aviv der Opfer des Hamas-Angriffs. Bei dem Massaker im Süden Israels starben am 7. Oktober 1.400 Israelis, mehr als 200 wurden in den Gazastreifen entführt.
Foto: AP / Petros Giannakouris

Um einen Vorgang zu erklären, muss ein kausaler Zusammenhang von Grund und Folge, von Ursache und Wirkung aufgezeigt werden: Ereignis B muss ursächlich mit Ereignis A zusammenhängen. Ist das nicht der Fall, liegt keine Erklärung vor, sondern höchstens eine möglicherweise interessante Koinzidenz.

In seinem Gastkommentar versucht der Historiker Jérôme Segal, das von der Hamas verbrochene Massaker in Israel zu "erklären". Dieses sei durch nichts zu rechtfertigen, doch wie so oft folgt auf diese Beteuerung ein großes "Aber": die Aufzählung einer Reihe von Dingen, die die aktuelle israelische Regierung aus seiner Sicht falsch mache.

"Die Hamas hat den Küstenstreifen in eine Terrorbastion gegen Israel ausgebaut, statt etwas für die Menschen zu tun."

Dabei driftet Segal allerdings schon ein Stück weit von der Realität ab, die doch eine "Erklärung" für die Untaten der Hamas sein soll. Wenn er beispielsweise von "geduldeten Übergriffen und ständigen Provokationen auf der Moschee-Esplanade" in Jerusalem spricht, so sitzt er palästinensischen Propagandalügen auf: Die einzigen Übergriffe, die es dort gibt, sind diejenigen gewalttätiger Palästinenser gegen Juden, deren an sich harmlose Besuche des Tempelbergs stets zu angeblichen "Aggressionen gegen die Al-Aksa-Moschee" erklärt werden, um Hass und Gewalt zu schüren.

Teilblockade gelockert

Auch die oft wiederholte Behauptung, Israel habe den Gazastreifen in ein "Freiluftgefängnis" verwandelt, ist mehr Propaganda als Beschreibung der Realität – ich habe jedenfalls noch nie ein Gefängnis mit Shoppingmalls und Restaurants gesehen. Klarerweise war die Lage vor dem 7. Oktober sehr prekär, doch dafür ist vor allem die Hamas verantwortlich, die den Küstenstreifen in eine Terrorbastion gegen Israel ausgebaut hat, statt etwas für die Menschen zu tun, über die sie eine eiserne Diktatur ausübt. Und ausgerechnet unter der aktuellen rechten (und in Teilen rechtsextremen) israelischen Regierung wurde die Teilblockade des Gazastreifens deutlich gelockert, sodass laut den Vereinten Nationen in den vergangenen Monaten mehr Güter und Personen die Grenze passiert haben als vor der Machtergreifung der Hamas 2007.

Massive Verschlechterung

Einen besonderen Spin verleiht Segal auch dem Umstand, dass ein Großteil der israelischen Armee zuletzt im Westjordanland stationiert war. Diese verstärkte Präsenz war die Folge der massiven Verschlechterung der Sicherheitslage in den vergangenen zwei bis drei Jahren mit einer Welle blutiger Angriffe auf Israelis, wie es sie schon seit Jahren nicht mehr gegeben hat. Teile des Gebiets sind der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) völlig entglitten und wurden zu Hochburgen neuer Terrorgruppen. Es ist die israelische Armee, die maßgeblich dafür sorgt, dass die PA nicht von islamistischen Terrorgruppen wie der Hamas weggefegt wird.

Segals Anprangerungen Israels sind keine "Erklärung" für den barbarischen Terror der Hamas. Denn dass diese ganze Familien abgeschlachtet, Kleinkinder verstümmelt sowie Frauen vergewaltigt und anschließend jubelnd, lachend und triumphierend durch die Straßen Gazas gezerrt hat, wurde nicht durch angebliches israelisches Fehlverhalten verursacht, sondern ist die Folge des auf nichts weniger als Vernichtung zielenden Antisemitismus der Hamas.

Barbarische Taten

Wie man in der Hamas-Charta nachlesen kann, sind Juden für sie buchstäblich für alle Übel der Welt verantwortlich, haben die Wirtschaft und die Medien in der Hand, stecken hinter allen Revolutionen und Kriegen weltweit (Artikel 22), zersetzen die gesellschaftlichen Werte und Sitten (Artikel 28), und all diese Absichten seien in den (bekanntlich gefälschten) "Protokollen der Weisen von Zion" niedergeschrieben (Artikel 32).

Die barbarischen Taten der Hamas lassen sich genauso wenig durch Handlungen Israels "erklären", wie man sonst zur Erklärung von Gewalttaten danach sucht, was die Opfer falsch gemacht haben könnten. Sie erklären sich vielmehr aus dem unbedingten Willen zum Judenmord, den die Hamas offen verkündet, wenn sie schreibt, dass die "Stunde der Auferstehung" erst kommen werde, wenn die Muslime die Juden restlos vernichten (Artikel 7).

Frühere Blindheit

Der israelische Historiker Tom Segev hat seine frühere Blindheit darüber selbstkritisch zum Ausdruck gebracht, als er in einem Interview bemerkte, er wäre vom Massaker weniger überrascht worden, hätte er sich "mehr für die Ideologie der Hamas interessiert".

Segal hingegen will die Untaten der Hamas, die er verharmlosend als "Episode" bezeichnet, nicht rechtfertigen, aber seine "Erklärung" rationalisiert sie, indem sie den Mördern gute Gründe unterstellt und sie, die nichts und niemand dazu gezwungen hat, aus der Verantwortung nimmt, sich bewusst für den Judenmord entschieden zu haben. (Florian Markl, 20.10.2023)