Am 16. Februar 1921 stürmte ein Mob, bestehend aus mehreren Hundert christlich-sozialen und deutschnationalen Randalierern, das Kammerspiel-Theater in Wien, wo Arthur Schnitzlers Stück Der Reigen gegeben wurde. Es kam zu Schlägereien, das Publikum floh.

Es ging angeblich um "Sittlichkeit". Worum es wirklich ging, war schon anlässlich der Premiere eines anderen berühmten Stücks von Schnitzler, Das weite Land, 1911 in der katholischen Tageszeitung Salzburger Chronik zu lesen: "Ach nein, dieser Schnitzler’sche Hausherrensohn heißt ja gar nicht Hofrichter, der Vater hat sicherlich Kohn oder Levi geheißen ..."

Antisemitische Geistesfeindlichkeit

Herbert Lackner hat eine "politische Kulturgeschichte Österreichs" geschrieben (Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt, Ueberreuter). Sie ist eine ziemlich niederschmetternde Chronik sehr oft antisemitisch unterlegter Geistesfeindlichkeit, hauptsächlich aus dem katholisch-konservativen und deutschnational-rechtspopulistischen Lager. Sie reicht herauf bis zu der aktuellen Aussage eines Wiener FPÖ-Landtagsabgeordneten, die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek brauche keine Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien, sondern eine "umfassende Therapiemöglichkeit".

Lackner war lange Chefredakteur des Profil, in den letzten Jahren Autor von erfolgreichen Sachbüchern über das geistige Österreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Als die Nacht sich senkte, Die Flucht der Dichter und Denker). Sein neues Buch behandelt auch die Kulturskandale der Zweiten Republik, bis zur "Uni-Ferkelei" der Wiener Aktionisten oder zum berühmten FPÖ-Plakat unter Jörg Haider "Lieben Sie Scholten, Jelinek, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?".

"Der Reigen ist heute ein Klassiker."

Über die Skandale von damals regt sich heute kaum jemand mehr auf. Der Reigen ist heute ein Klassiker. Die Wiener Aktionisten wie Günter Brus, Hermann Nitsch oder die Künstlerin Valie Export sind heute Gegenstand großer Retrospektiven in Bundesmuseen. Das Stück Heldenplatz, an dem sich der Furor des katholischen Bürgertums und von Rechtsextremisten entzündete (der junge H.-C. Strache brüllte bei der Premiere vom Rang), ist heute in den Kanon bedeutender Bühnenwerke aufgenommen und ein Schlüssel zur österreichischen Seele.

Theaterstück Reigen, Schauspielerinnen und Schauspieler sitzen bzw. stehen an einem langen Tisch.
Schnitzlers "Reigen" wurde 2022 bei den Salzburger Festspielen gezeigt.
Foto: Lucie Jansch

Hass und Gleichgültigkeit

Lackner schildert auch sehr eindringlich die Nachkriegszeit – einerseits wurden Nazi-Sympathisanten wie der Schriftsteller Heinrich Waggerl nach wie vor gehegt und gepflegt, andererseits machte sich die katholische Kirche mit dem Versuch einer "sittlichen Restauration" lächerlich: "Katholisches Mädchen, denk daran, dass dir häufiger wahl- und kritikloser Kinobesuch echte, reine Begeisterung (…) in haltlose, unsittliche Leidenschaft umfälscht."

All das ist heute nicht mehr denkbar, aber in den rechten Ecken des Landes flackert immer wieder neuer Hass gegen "linke" Kultur hoch. Fast schlimmer noch: die heutige offizielle Gleichgültigkeit gegenüber Kultur. Frage: Wer hat schon Nehammer, Babler, Kickl im Theater oder im Konzert gesehen? (Hans Rauscher, 25.10.2023)