Der Leichenschmaus, wie wir ihn heute gemeinschaftlich feiern, ist vor allem von Riten des Römischen Reichs geprägt.
Der Leichenschmaus, wie wir ihn heute gemeinschaftlich feiern, ist vor allem von Riten des Römischen Reichs geprägt.
Getty Images

"Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot", heißt es schon im ersten Korintherbrief. Es ist das biblische Yolo, Carpe diem für die ältere Generation. Anders formuliert: Man soll im Hier und Jetzt leben. Dass man das Leben genießen und zelebrieren soll, findet sich auch in der Tradition des Leichenschmauses wieder. Üblicherweise finden sich die Menschen nach einer Beerdigung beim Kirchenwirt ums Eck zusammen, um gemeinsam zu essen, zu trinken, Schmäh zu führen und zu lachen. Denn die Trauernden erzählen Geschichten über den Verstorbenen, reißen Witze, tauschen Erinnerungen aus und feiern dessen Leben.

Es sei eine Form der Traueraufarbeitung, sagt Pastoraltheologe Bernd Hillebrand von der Universität Graz. Der oder die Verstorbene sei nicht weg. Es beginne eine neue Form der Beziehung, die nach dem Tod, nach dem Abschiednehmen, mit dem Erinnern weitergeht. Der Leichenschmaus sorge auch für einen Rahmen, in dem Stress und Anspannung abfallen. "Dass man einen Schnaps auf den Verstorbenen trinkt, spielt da natürlich eine Rolle", sagt Hillebrand.

Vielen mag der emotionale Schwenk von der Trauer zur Feierei widerstreben. Dabei ist der Akt ein wichtiger Übergangsritus für die Trauernden: Er symbolisiert Normalität. Es ist der erste Schritt für Angehörige, wieder in den Alltag zu gelangen.

Grabfeiern und Gelage

Den Tod in solch hedonistischer Form zu zelebrieren hat seine Ursprünge bereits vor 15.000 Jahren. Damals handelte es sich aber noch um einen buchstäblichen Leichenschmaus: Der tote Körper wurde von den anderen gegessen. So konnte man die Leiche ganz praktisch entsorgen. Der Ritus entwickelte sich weiter, vom Kannibalismus hat man sich irgendwann verabschiedet und angefangen, die Menschen zu bestatten.

Ein entscheidender Punkt in der Geschichte der Totenfeier war die Antike. Aus dem alten Ägypten sind Grabbeigaben bekannt, zu denen auch Speisen gehörten. Im Grab des legendären Königs Midas in der heutigen Türkei fanden Archäologinnen Überreste eines festlichen Banketts, das zu Ehren des verstorbenen Herrschers abgehalten wurde. Die Forschenden konnten sogar rekonstruieren, was die Trauergemeinde vor über 2700 Jahren zu sich nahm: Lamm- oder Ziegeneintopf als Speise, auf den König stieß man mit einem Ferment aus Traubensaft, Gerstenbier und Met an.

Im antiken Rom war es üblich, die essbaren Grabbeigaben auch selbst zu verzehren. Mit einem gemeinsamen Mahl wünschte man dem Verstorbenen nochmal alles Gute. Das Refrigerium oder Epulum Funebre genannte Fest stellte das letzte große Essen vor einer neuntägigen Fastenzeit für die Trauernden dar. Mit der Christianisierung des Römischen Reiches wurde auch die Tradition des Totenmahls adaptiert. Die trauernden Menschen brachten Wein und Essen direkt zu den Gräbern. Die Feierlichkeiten auf dem Friedhof sollen zu regelrechten Gelagen ausgeartet sein. Es wurden Kapellen gebaut, um das Mahl in einen religiösen Kontext zu betten – und die feiernde Meute weg von den Gräbern zu bringen.

Stärkungsmahl

Die heutige Form des Leichenschmauses habe sich erst im vergangenen Jahrhundert zu einer richtigen Mahlzeit gestaltet, sagt Hillebrand. Das Speisen nach der Beerdigung hatte auch den Zweck, weit gereiste Verwandte für die Heimreise zu stärken. Außerdem mussten die Grabträger verköstigt werden, die eine anstrengende Arbeit hinter sich hatten.

Klassischerweise serviert man vor allem Deftiges. Schnitzel, Schweinsbraten oder Tafelspitz gehören zu den beliebtesten Bestattungsgerichten. Regional gibt es Unterschiede: In Schwaben werden beim Leichenschmaus Würste und Erdäpfelsalat serviert, während in Oberösterreich die Totensemmel Tradition hat – eine große Semmel, mit Anis bestreut, die zu gekochtem Rindfleisch gereicht wird.

In seiner Einfachheit wirkt der Leichenschmaus unserer Zeit fast schon bieder. Von den ausufernden Banketten und Gelagen, die selbst Jahrtausende später noch nachweisbar sind, ist nicht mehr viel übriggeblieben. (RONDO Exklusiv, Kevin Recher, 8.11.2023)

Das Interview ist Teil des RONDO Exklusiv zum Thema Abschiede.
der Standard