Zerstörung im Flüchtlingslager Jabalia im Norden des Gazastreifens am Dienstag.
Zerstörung im Flüchtlingslager Jabalia im Norden des Gazastreifens am Dienstag.
REUTERS/STRINGER

Für Israels Militär sei es äußerst schwierig, einen Krieg gegen die radikalislamische Hamas nach den Normen des Völkerrechts zu führen, sagt Christian Tomuschat, einer der profiliertesten Völkerrechtler Deutschlands, im STANDARD-Gespräch. Wenn Israel die Hamas tatsächlich vollständig eliminieren will, müsse es fast zwangsläufig den Tod von Zivilisten in Kauf nehmen.

STANDARD: Die Terrororganisation Hamas hat den aktuellen Nahost-Krieg durch ihren barbarischen Angriff auf Israel mit 1.400 Todesopfern entfesselt. Welche Möglichkeiten besaß Israel unmittelbar nach dem Hamas-Überfall, um im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts zu reagieren?

Tomuschat: Israel hatte nicht nur das Recht nach Artikel 51 der UN-Charta auf Selbstverteidigung gegen die Terrororganisation Hamas. Israel hat als Staat auch die Pflicht, seine Bevölkerung vor Terrorangriffen mit geeigneten Maßnahmen zu schützen. Zu diesen Maßnahmen gehört auch die Anwendung von Waffengewalt. Kein Staat darf sich derartig abscheuliche Terrorangriffe auf seine Menschen gefallen lassen.

STANDARD: Macht es einen völkerrechtlichen Unterschied, dass Israel gegen eine Terrorgruppe kämpft und nicht gegen einen souveränen Staat?

Tomuschat: Nein. Israel führt einen eindeutigen Selbstverteidigungskrieg gegen diese Terrororganisation. Die Hamas hat darüber hinaus als Beherrscher des Gazastreifens eine regierungsähnliche Form.

STANDARD: Israels Militär versichert, dass es bei den Angriffen auf die Hamas im Einklang mit dem Völkerrecht handelt und die Vorgaben beachtet. Was sagen Sie?

Tomuschat: Auch in dieser bewaffneten Auseinandersetzung gelten die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle sowie die Haager Landkriegsordnung. Israel und die Hamas haben danach kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und der Mittel ihrer Kriegführung. Zentral ist, dass die Zivilbevölkerung, einzelne Zivilpersonen und zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser allgemeinen Schutz genießen, also nicht angegriffen werden dürfen.

STANDARD: Israel bombardiert seit Wochen massiv den Gazastreifen und intensiviert nun seine Bodenoffensive. Tausende Zivilisten sind bei den Luftangriffen laut den UN bereits gestorben. Geht Israel damit zu weit?

Tomuschat: Israel geht mit dem Bombardement sicherlich an Grenzen. Auch bei so einer Offensive, wie Israel sie derzeit gegen die Hamas führt, müssen die elementaren Regeln des Kriegsvölkerrechts eingehalten werden. Es gelten etwa die Prinzipien der Humanität und der Verhältnismäßigkeit. Israel steht unter der Kontrolle der Weltöffentlichkeit.

STANDARD: Der Gazastreifen ist klein und mit 2,3 Millionen Menschen sehr dicht bevölkert. Hamas-Extremisten verstecken sich in Wohnhäusern und anderen zivilen Gebäuden. Die Terrorgruppe missbraucht Zivilisten als Schutzschilde und schert sich nicht um ihr Leid. Wie ist für Israel unter diesen Umständen eine bewaffnete Auseinandersetzung nach den Regeln des Kriegsvölkerrechts überhaupt möglich?

Tomuschat: Für Israels Militär ist es äußerst schwierig, einen Krieg gegen diesen Gegner und unter diesen Umständen nach den Normen des Völkerrechts zu führen. Der Krieg kann noch in einen Häuserkampf, einen "urban warfare", münden, dann dürfte es noch schlimmer werden. Eigentlich müssten die bewaffneten Kräfte in gehöriger Distanz zu der Bevölkerung stehen und operieren. Alle Anstrengungen der kriegsführenden Parteien müssten darauf ausgerichtet sein, Kombattanten und Zivilisten weiträumig zu trennen. Das lässt sich aber in der gegenwärtigen Situation kaum verwirklichen. Wir haben es nicht mit zwei Staaten zu tun, deren Armeen weitab der Wohnregionen gegeneinander antreten.

STANDARD: Welche Folge hat das für Israels Militär?

Tomuschat: Israels Militär sieht sich mit einem echten Dilemma konfrontiert: Wenn Israel die Hamas, die den schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust verübt hat, vollständig eliminieren will, muss es fast zwangsläufig den Tod von Zivilisten in Kauf nehmen.

STANDARD: Dürfen Israels Streitkräfte den Gazastreifen abriegeln und Hilfslieferungen über seine Grenzübergänge unterbinden?

Tomuschat: Nach den Regeln des Völkerrechts dürfen die Kriegsparteien die Zivilbevölkerung nicht aushungern. Die Kriegsparteien dürfen keine Vorratslieferungen für Zivilisten abschneiden, um militärische Vorteile zu erzielen.

STANDARD: Eine UN-Kommission hat schon kurz nach dem Beginn der Feindseligkeiten von starken Anhaltspunkten für Kriegsverbrechen gesprochen. Werden diese Taten jemals geahndet?

Tomuschat: Ich gehe davon aus, dass Untersuchungen stattfinden werden. Die UN oder andere Institutionen, möglicherweise der Internationale Strafgerichtshof, können diese Ermittlungen durchführen. Ziel muss es sein, für mögliche Strafverfahren verlässliche Beweise zu sichern.

STANDARD: Zum Abschluss eine grundsätzliche Frage: Was ist das Völkerrecht wert, wenn es nicht durchgesetzt wird?

Tomuschat: In diesem Fall muss man leider schon große Zweifel an der Wirksamkeit des Völkerrechts haben. (Jan Dirk Herbermann, 1.11.2023)