In den sozialen Medien kursiert ein Video, auf dem ein orthodoxer Jude zu sehen ist, der leidenschaftlich die Opfer "zionistischer Gewalt" beklagt und die Zionisten und den Zionismus als "not jewish" und "antisemitic" in Grund und Boden verdammt. Ohne es beweisen zu können, halte ich dieses Video für ein Fake-Produkt, allerdings ein interessantes und offenkundig wirkungsvolles.

Religiöse Juden waren meist tatsächlich keine Zionisten, aber nicht militante Antiisraelis. Aber die Erzählung: Juden ja, Zionisten nein ist neuerdings wieder aktuell geworden. Die Auswanderung von Juden nach Palästina begann im späten 19. Jahrhundert in der Folge eines großen Pogroms in Russland und wurde in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, inspiriert von dem liberalen österreichischen Schriftsteller Theodor Herzl, zu einer erfolgreichen politischen Bewegung. Man sprach damals vom "Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Vom "palästinensischen Volk" war nicht die Rede, zunächst galt das dünn besiedelte Palästina, damals britisches Mandatsgebiet, als unbestrittene "Heimstätte für das jüdische Volk". Grund und Boden wurden den arabischen Landbesitzern abgekauft. Vertreibungen kamen erst später.

Katastrophe, Slogan, Schuld

Inzwischen ist der "Befreiungskampf" der Palästinenser gegen die jüdische Vorherrschaft nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in Teilen der internationalen Linken zu einem wichtigen Thema geworden. Hier wird der Konflikt im Zusammenhang mit dem Kolonialismus gesehen, während auf der anderen Seite die Sicherheit und Unverletzlichkeit des israelischen Staates nach der Katastrophe des Holocaust ("nie wieder"), vor allem in Deutschland und Österreich, oberste Priorität genießen. Manche Propalästinenser haben dafür den Slogan "Free Palestine from German Guilt" geprägt.

Judenplatz in Wien Hamas
Aufstellung eines leeren Schabbat-Tisches für die von der Hamas verschleppten Geiseln am Judenplatz in Wien.
Heribert Corn

Je mehr sich der Konflikt zuspitzt, desto weniger Raum gibt es im öffentlichen Diskurs für Zwischentöne. Das schreckliche Massaker an israelischen Zivilisten vom 7. Oktober und die Notlage der Bewohner von Gaza in Anbetracht der israelischen Luftangriffe haben das Dilemma noch verzweifelter gemacht. Schon ein Wort des Mitleids für die Letzteren kann zum Vorwurf des Antisemitismus führen.

Versteckspiel

Das ist oft auch durchaus berechtigt, denn der einheimische Nazi-Antisemitismus versteckt sich mittlerweile häufig hinter dem "akzeptableren" Antizionismus. Der jahrhundertealte Hass auf die Juden, weil sie Juden sind, findet im Nahostkonflikt eine Art Alibi. Man sagt "Siedlungspolitik" und denkt "jüdische Präpotenz". Das alles bewirkt eine toxische Mischung, die zu einem nicht minder toxischen Entweder-oder verleitet. Ja, aber ... gilt nicht mehr.

Gibt es einen Ausweg? Vermutlich nicht. Gerade die sachkundigsten Experten bekennen sich zur Ratlosigkeit. Trotzdem ist genaueres Hinschauen nicht verkehrt. Streit um Gebietsansprüche und Besatzung ist etwas anderes als rassistischer Hass auf angebliche "Untermenschen", und es ist problematisch, beides unter dem Sammelbegriff "Antisemitismus" in einen Topf zu werfen. Das Differenzieren wird uns trotz allem nicht erspart bleiben. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 2.11.2023)