David Fuchs im Ordensklinikum Barmherzige Schwestern in Linz.
Onkologe, Palliativmediziner und Schriftsteller
David Fuchs hat hunderte Menschen beim Sterben begleitet, hat ihnen beim Leben vor dem Tod geholfen. Denn, wie ein betagter Herr sagte: "Gestorben wird erst ganz zum Schluss."
Violetta Wakolbinger

Der weiße Mantel sei eine Art "Kostümierung", sagt David Fuchs. Wenn er ihn trägt, ist er Arzt. Ein Onkologe, der todkranke Menschen am Ende ihres Lebens begleitet. In der Brusttasche immer dabei: ein Notizbuch für Ideen aus dem Alltag. Es gehört dem Schriftsteller David Fuchs. An einer Wand in seinem Büro im Ordensklinikum Barmherzige Schwestern in Linz hängt eine Kinderzeichnung, die ihn zeigt. Ein kleiner Bub, dessen junge Mutter in der Obhut des Palliativmediziners gestorben ist, hat es gemalt. Im Bücherregal steht u. a. House of God von Samuel Shem, das ein Vorbild für die TV-Ärzteserie Scrubs – die Anfänger war.

"Zwei Zimmer weiter macht Frau E. derweil ihren letzten Atemzug. Der Nachtdienst beginnt."

STANDARD: Sie haben diesen letzten Atemzug, den Sie in Ihrem neuen Buch "Zwischen Mauern" beschreiben, viele Male erlebt. Gewöhnt man sich daran?

Fuchs: An die ersten sterbenden oder toten Menschen kann ich mich sehr gut erinnern. An die vielen Hundert seither natürlich nicht alle. Es gibt, wie überall im Leben, einen gewissen Gewöhnungseffekt. Immer wieder bleiben Leute im Gedächtnis, und ganz normal oder alltäglich wird es natürlich nicht. Es lohnt sich oft, eine kleine Pause zu machen, innezuhalten, kleine Rituale für sich zu haben.

STANDARD: Welche zum Beispiel?

Fuchs: Ich bin kürzlich mit einer Pflegerin noch einmal zu einer Verstorbenen ins Zimmer, und wir haben mit ihr noch ein wenig geredet. Es ist wichtig, berührbar zu bleiben, aber auch gesund, eine gewisse Distanz zu haben, denn wenn ich immer mit der ganzen Emotion mitgehe, bin ich schnell ausgebrannt. Ich muss auch in Situationen, die zum Teil sehr tragisch und krisenhaft sind, wo große Gefühle im Spiel sind, derjenige sein, der handlungsfähig bleibt und entscheiden kann, was zu tun ist. Man muss eine gute Balance zwischen Abstand und Berührbarkeit finden, jeden Tag neu.

STANDARD: Was hilft dabei? Welche Strategien haben Sie dafür?

Fuchs: Wir haben Teamsupervision, viele von uns Einzelsupervision, wo man belastende Erlebnisse reflektieren kann. Es ist mir auch wichtig, nicht meine ganze Zeit mit Medizin zu verbringen. Bei mir sind es meine Kinder, die mir Energie geben, natürlich die Literatur, aber auch das Reparieren von alten Füllfedern, und ich spiele seit 30 Jahren gern PC-Spiele. Ein gutes, niveauvolles Spiel ermöglicht eine Tiefe an Immersion, ein Eintauchen in eine andere Welt, die man in der Form auf keine andere Weise bekommt.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch geht es auch um die Frage, was, wenn man einen Patienten nicht mag, weil er ist, wie er ist oder was er war, zum Beispiel ein gewalttätiger Alkoholiker, der jetzt stirbt. Wie zeigt sich dieses Dilemma im medizinischen Alltag?

Fuchs: Natürlich hat jeder Mensch die gleiche Behandlung, Fürsorge, Pflege, Medizin verdient, das ergibt sich schon aus der Menschenwürde. Wir handeln professionell. Was mich für das Buch interessiert hat, ist die Frage: Okay, und wie geht’s uns damit? Ich hatte etwa relativ bald, da war ich noch Student, mit einem Mörder zu tun, der sich mir gegenüber überhaupt nicht unangenehm verhalten hat, im Gegenteil. Da entsteht ein Spannungsfeld. Es gibt Patienten, die sind mir total sympathisch und die mag ich, und dann gibt es welche, die sind mir weniger sympathisch oder sie tun oder sagen Dinge, die ich ablehne. Natürlich verhalte ich mich professionell, aber es macht etwas mit mir, und es ist nicht das Gleiche, mir geht’s damit nicht gleich. Es gibt aber immer wieder unvorhersehbare, schöne Wendepunkte. Vor Jahren hatte ich eine Patientin, und wir haben uns ziemlich schwergetan miteinander. Dann entdeckten wir, dass wir ein Interesse für altarabische Liebeslyrik teilen, und kamen über das ins Gespräch. Das hat unsere Beziehung – und letztlich auch die Zusammenarbeit in der Behandlung – wesentlich verändert und auch verbessert.

",Warum schreit Herr T. eigentlich? ... ,Manchmal kommt den Leuten auch ihr ganzes Leben in die Quere, ganz am Schluss. Simple as that.'"

STANDARD: Stirbt man so, wie man gelebt hat?

Fuchs: Eine Kollegin sagte einmal, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen beim Sterben nicht ändert. Der grantelnde Eigenbrötler wird ein grantelnder Eigenbrötler bleiben. Ein schwerer Familienkonflikt wird auch auf den letzten Metern bleiben, manchmal gibt’s eine Versöhnung, aber das ist die Ausnahme. Der Anspruch, man müsse alles "auflösen", ist eine Illusion und eigentlich übergriffig. Menschen, die zu uns kommen, haben eine Biografie, 30, 50 oder 80 Jahre. Das ist alles da, und das müssen wir behutsam behandeln und respektieren.

David Fuchs, Arzt, Onkologe und Palliativmediziner, in seinem Büro im Spital der Barmherzigen Schwestern in Linz.
In David Fuchs' Büro gibt es zwar einen Wandschrank, aber er ist leer. Auf dem Schreibtisch steht ein Computer, den er braucht. So wie das kleine schwarze Notizbuch in der Brusttasche, damit der Schriftsteller in ihm keine Ideen vergisst – zum Beispiel die mit dem Stethoskop im neuen Buch "Zwischen Mauern": "Die Szene mit Dr. Pomp, wie er die Verstorbene abhört, habe ich deswegen geschrieben, weil ich mir gedacht habe: Ich trage jeden Tag mein Stethoskop mit mir herum und horche damit inzwischen mehr Verstorbene als Lebende ab, weil das bei uns einfach so notwendig ist."
Violetta Wakolbinger

STANDARD: Haben Sie selbst denn Angst vor dem Tod?

Fuchs: Vor dem Tod habe ich keine Angst. Wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr da. Vor dem Sterben ja.

STANDARD: Auch als Palliativarzt?

Fuchs: Ja. Zwar ist es beruhigend zu wissen, dass junge Kolleginnen nachkommen, die mich gut betreuen werden, wenn’s mir schlecht geht, und es hilft auch zu wissen, welche guten Möglichkeiten es in der Symptomkontrolle gegen Schmerzen und Atemnot gibt, dennoch macht mir persönlich das Sterben durchaus Angst. Ich bin ja noch nie gestorben und bin, wie wir alle, Anfänger auf diesem Gebiet.

STANDARD: Die letzten Meter muss jeder Mensch allein gehen. Aber haben Sie bei Sterbenden etwas gesehen, das sich allgemein über Sterben sagen lässt?

Fuchs: Ein Patient, ein sehr betagter Herr, sagte zu einem Kollegen: "Sterben, das tun wir erst ganz zum Schluss." Womit wir uns in der Palliative Care beschäftigen, ist das Leben vor dem Tod, und das ist höchst individuell. Das Wichtigste ist, dass man nicht glaubt zu wissen, was ein anderer braucht. Man muss sich trauen, die Fragen zu stellen. "Haben Sie Angst vorm Sterben?" Und dann die Antwort aushalten. "Wie soll das einmal sein, wenn Sie sterben? Was sollte ich über Sie wissen?" Manchmal muss man Wünsche vielleicht umlenken oder anders abbilden. Eine Dame wollte noch einmal ins Kino. Wir haben dann eine Leinwand aufgestellt und ein Kino gemacht mit Netflix und Nachos. Das ist sich noch ausgegangen. Das ist das Schöne an dem Fach: Wir können in der Palliativmedizin Dinge machen, die aus der Krankenhausroutine ausbrechen, die vielleicht nicht vorgesehen sind, aber viel bringen.

STANDARD: Sie haben die Leitung der Palliative Care 2022 übernommen, genau als der assistierte Suizid, also aktive Sterbehilfe, erlaubt wurde. Welche Erfahrungen haben Sie im Laufe Ihrer Berufskarriere damit gemacht?

Fuchs: Es gibt häufig Sterbewünsche, und die stehen nicht selten direkt neben dem Wunsch zu leben. "Warum bin ich heute wieder aufgewacht?" Und dann, nächster Satz: "Ich freu mich so auf den Nachmittag." Diese Ambivalenz ist alltäglich. Dass jemand wirklich den Wunsch hat, sich selbst zu töten, ist dagegen relativ selten. Manche Menschen wollen auch einfach nur darüber sprechen oder brauchen den Gedanken, die Möglichkeit als Entlastung. Ein Patient nannte das seinen "Notausknopf".Der Suizidassistenz und noch mehr der Tötung auf Verlangen stehe ich dennoch sehr kritisch und ablehnend gegenüber.

STANDARD: Warum?

Fuchs: Vor allem aus dem Grund, was wir aus anderen Ländern wissen, nämlich dass das mit Abstand stärkste Motiv ist, dass Menschen anderen nicht zur Last fallen wollen und Angst vor Vernachlässigung haben. Wir haben ein Pflegesystem, das völlig am Zusammenbrechen ist, und dieses Hauptmotiv für einen Suizid – das halte ich für eine schwierige Kombination. Konkrete Anfragen für eine Sterbeverfügung kriegen wir selten, ein- oder zweimal pro Monat. Wir bieten die Beratungen dazu nicht an – das gilt für alle Palliativstationen in Oberösterreich –, schauen aber gezielt, ob wir den Menschen mit ihrem Leid anders helfen können.

STANDARD: Ihre Bücher behandeln wichtige gesellschaftliche Themen: Krebs, Demenz, Pflege. Was wäre aus Ihrer Sicht als Arzt, der in diesem System arbeitet, politisch am wichtigsten?

Fuchs: Ein ernsthaftes Eingehen auf die Pflegekrise. Pflegekräfte aus dem Ausland anzuheuern oder ein Minigehaltsbonus sind nett, aber wir haben ein Defizit von zehntausenden Pflegepersonen, das in den nächsten Jahren immer größer werden wird. Da passiert viel zu wenig. Wir haben den Bettenmangel jetzt schon, wir haben größte Schwierigkeiten, eine Entlassung vorzubereiten, bekommen Anrufe, dass Leute pflegerisch nicht mehr versorgbar sind. Ich habe zehn Betten, und wir sind auch kein Pflegeheim, ich kann das nicht alles auffangen. Bald kommt die Ärztepensionierungswelle. Das macht mir eine Riesensorge. (Lisa Nimmervoll, 2. 11.2023)

"Es dauert noch fast fünf Minuten, bis Meta bemerkt, dass die Pause nicht mehr endet, dass es keine Pause mehr ist, sondern das Ende."

(Auszüge aus David Fuchs' Roman "Zwischen Mauern")

David Fuchs, im weißen Arztkittel, von hinten, geht einen Spitalsgang entlang.
David Fuchs in der von ihm geleiteten Palliativabteilung der Barmherzigen Schwestern in Linz, zu der auch eine Palliativambulanz gehört.
Violetta Wakolbinger