Wie es ist, in einer Kirche nicht nur vor sich her, sondern für Publikum zu singen, das weiß sie. Und auch, wie es sich anfühlt, in einem großen, opulenten Gotteshaus aufzutreten. Schon oft habe sie im Stephansdom gesungen, erzählt sie. Trotz der Routine gibt es für sie aber Konzerte, die etwas Besonderes sind – selbst wenn sie in einer kleinen, schlichten Kirche im tiefsten Simmering stattfinden.

Denn glitzernde Ohrhänger, Kleid, Pumps und Make-up hat sie bei einem Kirchenauftritt bisher noch nicht getragen. Anders am 1. Dezember: Da wird Chichi Gonzalez in der evangelischen Glaubenskirche mit einem Orchester Weihnachtslieder aufführen. In Drag.

Für Dragqueeen Chichi Gonzalez wird beim Altar eine Bühne aufgebaut, sie singt am 1. Dezember mit Orchesterbegleitung.
Regine Hendrich

Eine Premiere ist das auch für die Kirche. Für die konkrete in der Braunhubergasse. Und im übertragenen Sinn: So einen Event habe es in einer Kirche in Österreich noch nicht gegeben, heißt es in der Ankündigung.

Türen aufmachen

In Simmering zu singen bedeute ihr viel, erzählt Dragqueen Gonzalez. Sie und ihresgleichen seien es gewohnt, Safe Spaces aufzusuchen – Orte, an denen sie sich akzeptiert und geschützt fühlen: "Die Kirche war bisher kein solcher Platz. Ich fühle mich nicht ganz zugehörig." Das nahende Konzert verändere das: "Die Möglichkeit, in einer Kirche in Drag zu singen, ist, wie eine Tür aufzumachen."

In der Glaubenskirche scheut man Premieren dieser Art nicht. Auch wenn diese Offenheit schon einmal erforderte, Türen zu schließen. In den 1990er-Jahren habe in dem kleinen Gebäude, erbaut nach den Plänen des bekannten Architekten Roland Rainer, die erste Segnung eines gleichgeschlechtlichen Paares in der evangelischen Kirche stattgefunden, erzählt Pfarrkuratorin Eva Hörmann. "Da war eine Riesenaufregung auf der Straße. Wir haben die Kirchentüre zugesperrt, damit keiner reinkommt."

An der Fassade der Glaubenkirche in Simmering, erbaut nach den Plänen von Roland Rainer, wird ein Zeichen für Toleranz gesetzt.
Regine Hendrich

Heute signalisiert eine an der Kirchenfassade gehisste Regenbogenflagge Akzeptanz für verschiedene sexuelle Orientierungen und Identitäten.

Kulturkampf gegen Kunstform

Gegen das Konzert von Dragqueen Gonzalez rührt sich – abgesehen von einem etwas spöttischen Artikel einer rechten Boulevardseite – kein Protest. Zumindest bisher.

Im heurigen Frühling wurde deutlich, dass Dragqueens auch in Österreich als Zielscheibe eines Kulturkampfs herhalten müssen. FPÖ und ÖVP mobilisierten gegen Dragqueen-Lesungen für Kinder, es gab Demos für und gegen derartige Events. In den USA hatten da bereits seit Monaten harte Auseinandersetzungen um Auftritte von Dragqueens vor Kindern getobt, sie wurden der Pornografie bezichtigt. Dabei geht es bei Drag um etwas ganz anders: Performances, bei denen überzeichnet mit Geschlechternormen und -rollen gespielt wird.

Etwa eine Stunde braucht Chichi Gonzalez, um sich fertig zu machen – ohne Haarstyling.
Regine Hendrich

Ist nun so etwas wie Weihnachtsfriede eingekehrt? Gonzalez hat eine andere Vermutung. Wahrscheinlich würde ihr Kirchenkonzert mehr irritieren, wenn deutlicher sichtbar sei, dass sie als Bub geboren wurde, glaubt sie: "Wenn Leute das Plakat sehen, denken sie wohl: Das ist eine Sängerin."

"Drag Race" als Beginn

Die 31-Jährige stammt aus Mexiko, 2016 kam sie nach Wien, um Operngesang zu studieren. Erzogen wurde sie katholisch: An Gott glaubt sie – an die Kirche nur bedingt. Gonzalez ist eine Transfrau, identifiziert sich also als weiblich. Derzeit sei sie in der "Transition": So nennen transgeschlechtliche Menschen die Phase der Annäherung ihres Körpers an ihr empfundenes Geschlecht. Drag habe ihr auf dem Weg geholfen: "Es hat mir erlaubt, mich in meine feminine Seite hineinzufühlen."

Auf die Kunstform aufmerksam wurde sie durch die bekannte Reality-TV-Show RuPaul’s Drag Race, die ihr vor fünf Jahren ein Freund zeigte: "Da hat es Klick gemacht." Aus der Faszination ist mittlerweile ein Job geworden, zusätzlich zu einer Stelle im Marketing.

Etwa eine Stunde braucht Gonzalez, um sich zu stylen – ohne Haare. Derzeit habe sie ihre "perückenlose Phase". Die wird allerdings beim Konzert unterbrochen: Da wird Gonzalez ein Modell im Stil von Cindy Lou Who aus dem Film Der Grinch tragen. Mehr als die Hälfte der rund 100 Karten ist bereits verkauft. Sie kosten zwischen 35 und 75 Euro, der Reinerlös kommt einem queeren Projekt zugute.

LGBTIQ-Themen für die Außenbezirke

Das Konzert kam dadurch zustande, dass die Pfarre Wert darauf legt, an bereits Vorhandenes im Grätzel anzuknüpfen. "Wir schauen, was bereits da ist, und arbeiten damit", sagt Pfarrerin Anna Kampl. Und da habe man das Projekt Queer Dance im Gemeindebau vorgefunden: eine Tanzveranstaltung, die LGBTIQ-Themen in Außenbezirke trägt und sichtbar macht.

Ortun Gauper vom veranstaltenden Verein Queer Moments, Pfarrerin Anna Kampl, Dragqueen Chichi Gonzalez und Pfarrkuratorin Eva Hörmann in der Glaubenkirche.
Regine Hendrich

In Kooperation mit dem veranstaltenden Verein wurde das Konzert organisiert. "Mensch zu sein heißt, andere Menschen zu akzeptieren, wie sie sind. Bei uns sind alle willkommen", sagt Kampl. Ganz in der basisdemokratischen Tradition der evangelischen Kirche wurde abgestimmt, ob Gonzalez’ Konzert stattfinden solle. Zur Freude der Pfarrerin votierte die Gemeinde dafür. Klar ist für Kampl aber auch: "Wer noch nicht so weit ist, hat bei uns auch Platz."

Josef im Prinzessinnenkleid

Derartige Abstimmungen gibt es in der evangelisch-lutherischen Kirche – das ist jene Richtung, der der Großteil der 265.000 Protestanten in Österreich angehören – auch in der Frage der Ehe für alle. Sie erlaubt kirchliche Hochzeiten für gleichgeschlechtliche Paare seit 2019. Die Mitglieder einer Gemeinde können sich aber per Abstimmung dagegen aussprechen, dass derartige Trauungen in ihrer Pfarre stattfinden. Zusätzlich entscheiden die Pfarrerinnen und Pfarrer selbst für sich, ob sie gleichgeschlechtliche Paare trauen.

"Bei uns sind alle willkommen", sagt Pfarrerin Anna Kampl. Über das Konzert hat die Gemeinde abgestimmt.
Regine Hendrich

Und Drag? Wie hält es die hiesige evangelische Kirche damit? Deutschland hat mit Nulf Schade-James einen offen homosexuellen Pfarrer, der in seiner Frankfurter Gemeinde als Dragqueen auftritt. "In Österreich gibt es so jemanden nicht", sagt Katharina Payk, Hochschulpfarrerin und ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet queere Theologie. Viele Menschen in der evangelischen Kirche seien hierzulande offen für und solidarisch mit LGBTIQ-Themen. Aber: "Es gibt auch solche, die das ausschließen. Auch Drag."

Manche Christinnen und Christen würden das Spiel mit Geschlechterrollen und -identitäten als unerlaubt erachten: "Das kommt von einem naturalistischen Weltbild, wonach nur Mann und Frau von Gott geschaffen und in ihren klaren Geschlechterrollen aufeinander bezogen sind." Dabei biete die Bibel auch Stellen, die diese Vorstellung durchkreuzen: etwa jene Erzählung, wonach der junge Josef ein Prinzessinnenkleid trug, dass sein Vater Jakob für ihn angefertigt hatte. In Bezug auf Drag ist das für Payk eine "spannende Stelle".

Das Konzert in Simmering sieht sie als Chance, mit gutem Beispiel voranzugehen. "Da können wir zeigen, dass wir mutig sind", sagt sie. "Und offen für die glitzernde Vielfalt." (Stefanie Rachbauer, 27.11.2023)