Tiktok Gaza
Über soziale Medien werden nicht nur Informationen geteilt, seit längerem läuft ein Propagandakampf – auch auf Tiktok: Menschen in Gaza beim Aufladen ihrer Handys.
AP/Hosein Owda

Radikalisierung ist ein gradueller Prozess, der sich üblicherweise in drei Phasen entfaltet: Erstens erfolgt eine Annäherung an die radikale Szene oder bestimmte politische Themen. Zweitens tritt eine Fixierung auf diese Themen ein, begleitet von einer Konzentration der sozialen Kontakte innerhalb der Szene oder einer kleineren Gruppierung. Gleichzeitig entfernt sich die Person von ihrem vorherigen sozialen Umfeld und Mainstream-Informationsquellen. In dieser Phase werden Einstellungen absolut, exklusiv und extrem. In der dritten Phase identifiziert man sich mit der neuen militanten Rolle, Handlungsoptionen werden durch eine immer starrer werdende und verzerrte Realitätswahrnehmung sowie durch Klandestinität enger. Gewalt erscheint nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar unerlässlich. Das persönliche, soziale und berufliche Leben wird dem politischen Kampf vollständig untergeordnet. Ein roter Faden ist dabei meistens eine wahrgenommene Ungerechtigkeit, häufig in Bezug auf einen aktuellen gewaltsamen Konflikt.

Das Internet, insbesondere soziale Medien, beschleunigt und intensiviert diese Radikalisierungsprozesse. Die Besonderheit dabei ist der sofortige Zugang zu einer Fülle von extremistischen Bildern und Videos, die eine professionelle Qualität aufweisen. Das Internet kann auch den Mechanismus der Abkapselung unterstützen, indem Personen in einer geschlossenen Gruppe gemeinsam bestimmte Deutungen intensiv bespielen und sich gegenseitig zum Handeln motivieren. Telegram ist hierfür ein Medium par excellence. Es ermöglicht nicht nur das Teilen und Konsumieren von Inhalten, sondern auch die Kommunikation, Rekrutierung und Planung in Kanälen und Chatgruppen sowie das Teilen extremerer Inhalte. Doch wie sieht es bei Tiktok aus?

Unter Tränen

In einem kurzen Experiment auf Tiktok wurden bei einer einfachen Suche mit dem Stichwort "Palästina" eine Reihe von Videos vorgeschlagen. Unter den ersten Ergebnissen befand sich unmittelbar ein Clip von Abul Baraa, einem bekannten salafistischen Prediger. Er schildert unter Tränen die Lage einer palästinensischen Mutter, die alle ihre Kinder während der Bombardierung des Gazastreifens verloren haben soll.

Die Suche ergab auch Videos zu Pro-Palästina-Demonstrationen, Ausschnitte aus EU-Parlamentssitzungen oder UN-Sitzungen, die die angeblich übermäßige oder unrechtmäßige Gewalt an Zivilisten in Gaza beklagen. Zudem gab es politische Aussagen von Popstars, neuen Konvertiten oder am Islam Interessierten, die ihren spirituellen Weg beschreiben. Es wird also deutlich, dass ein vielfältiges Spektrum von Akteuren dieses Thema bewegt, die grundlegende Sympathien für die palästinensische Lage hegen, aber mehrheitlich nicht extremistisch sind oder extremistische Erzählungen verbreiten.

Eine Suche mit dem Stichwort "Jihad" ergab eine breite Palette von Ergebnissen, sowohl jihadistischer und islamistischer Art als auch aufklärerische Videos, die betonen, dass Jihad vor allem ein Kampf mit sich selbst in Richtung spiritueller Erleuchtung sei. Bei der Anwendung bestimmter Stichwörter konnte man auch direkt (ältere) jihadistische Inhalte anschauen, inklusive Memes und Parodien über bekannte Daesh-Terroristen. Das Stichwort "Dschihad" ergab allerdings rechtspopulistische, xenophobische und antimuslimische Inhalte. Im Feed ergab sich danach ein buntes Potpourri aus all diesen Kategorien, vermischt mit verschwörungstheoretischen Videos über den vermeintlich kurz bevorstehenden dritten Weltkrieg oder antisemitischen Erzählungen sowie israelfreundlichen Videos und verschiedenen Lifestyle-Videos.

Bereits 2019 wurde Tiktok auf jihadistische Inhalte aufmerksam gemacht. Die Plattform versucht, betroffene Konten zu entfernen, leider nicht immer schnell genug. Ansonsten scheint Tiktok, aufgrund seines Designs und der Diversität sowie der geringen Tiefe der Inhalte, weniger für die typische Abkapselung in kleinen konspirativen Gruppen wie etwa bei Telegram geeignet zu sein. Man kann allerdings relativ leicht mit höchstproblematischen Inhalten in Kontakt kommen. In der ersten Phase der Radikalisierung kann also vor allem Tiktok eine wichtige Rolle spielen. In dieser Phase sind jedoch auch die Empfänglichkeit für Gegenerzählungen und die Offenheit zur Diskussion am höchsten.

Der Palästina-Konflikt erzeugt viel Resonanz, insbesondere bei politisch interessierten Jugendlichen, die in sozialen Medien besonders aktiv sind. Politisches Engagement und die Äußerung politischer Ideen sind in einer Demokratie wünschenswert. Problematisch wird es, wenn der Konflikt im Rahmen von verschwörungstheoretischen Erzählungen instrumentalisiert und umgedeutet wird. Dies muss in sicheren Räumen wie Schulen thematisiert werden, in denen sich Jugendliche gehört und geschützt fühlen, ohne vorverurteilt und kriminalisiert zu werden. Auch Gegenerzählungen und aufklärerische Videos in den sozialen Medien selbst sind gefragt, idealerweise in Formaten, die für Jugendliche ansprechend sind. Davon ist leider viel zu wenig zu sehen. (Daniela Pisoiu, 27.11.2023)