Herzorganoide
Herzorganoid-Modelle mit mehreren Kammern geben Aufschlüsse über Erkrankungen des komplexen Organs sowie über seine Entwicklung. Der Maßstab dieser Mehrkammer-Kardioide entspricht 500 Mikrometern.
Alison Ann Deyett/ IMBA

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache, aber nur wenige neue Therapien sind in Sicht. Ähnlich verhält es sich mit angeborenen Herzfehlern, die bei ­jedem 50. Neugeborenen auftreten – auch hier gibt es nur wenige Behandlungsansätze, da die Entstehung von Herzfehlern bislang nicht gänzlich entschlüsselt ist. Zum Verständnis von Herzerkrankungen und Herzfehlbildungen fehlte der Wissenschaft bisher ein Modell, das die wichtigsten Regionen des so komplexen Organs nachbildete.

Ein Wiener Forschungsteam kann nun einen enormen Erfolg in diesem Feld vermelden: Am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde das erste physiologische Organoidmodell vorgestellt, das alle wichtigen sich entwickelnden Herzstrukturen umfasst. Damit ermöglicht es Forschenden, Erkrankungen sowie die Entwicklung des Or­gans zu untersuchen. An den neuen Modellen feilten die Forschenden des IMBA bereits seit längerem. Im Jahr 2021 präsentierte die Forschungsgruppe um Leiter Sasha Mendjan das erste kammerartige Herzorganoid, das aus menschlichen induzierten pluripotenten Stammzellen gebildet wurde.

Einblick in frühe Entwicklungsphase

Diese selbstorganisierenden Herzorganoide, auch Kardioide genannt, bildeten die Entwicklung der linken Herzkammer in den allerersten Tagen der Embryoentstehung ab. In einer neuen Studie baute das Team am IMBA seine früheren Arbeiten aus. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden nun im Fachblatt "Cell" veröffentlicht. Zunächst erstellten die Forschenden Organoidmodelle der einzelnen Herzstrukturen. "Dann fragten wir: Wenn wir alle diese Organoide gemeinsam entwickeln lassen, erhalten wir dann ein Herzmodell, das koordiniert schlägt wie das frühe menschliche Herz?", erklärt Gruppenleiter Mendjan.

Eine Überraschung erlebte das Team, nachdem es Organoide der linken und rechten Herzkammer und des Vorhofs zusammen gezüchtet hatte. "Tatsächlich breitete sich ein elektrisches Signal vom Vorhof in die linke und dann in die rechte Herzkammer aus – genau wie in der frühen fötalen Herzentwicklung bei Tieren", berichtet Mendjan. "Diesen grundlegenden Prozess haben wir nun erstmals in einem menschlichen Herzmodell mit all seinen Kammern beobachtet."

Kontraktion eines Mehrkammer-Kardioids
Das Video zeigt den koordinierten Herzschlag im Herzorganell, so ähnlich, wie er auch bei echten Herzen stattfindet.
DER STANDARD

Während das frühere Kardioidmodell den Forschenden ermöglichte, die Form und die Gewebeorganisation der Kammern zu untersuchen, können sie mit den neu entwickelten Mehrkammer-Kardioiden noch weiter gehen und untersuchen, wie regionale Unterschiede in der Genexpression zu spezifischen Kontraktionsmustern der Kammern und der komplizierten Kommunikation zwischen ihnen führen. Mittlerweile konnte das Forschungsteam bereits Einblicke gewinnen, wie das menschliche Herz zu schlagen beginnt.

Individuelle Modelle und Therapie

Die neuen Modelle erlauben zudem, kammerspezifische Defekte zu untersuchen. Die Mendjan-Gruppe hat auch eine Screening-Plattform für Defekte eingerichtet, in der sie untersucht, wie bekannte Teratogene – äußere Einwirkungen, die Fehlbildungen verursachen – und Mutationen Hunderte von Herzorganoiden gleichzeitig beeinflussen. "Unsere Tests zeigen, dass Mehrkammer-Kardioide die em­bryonale Herzentwicklung rekapitulieren und mit hoher Spezifität störende Auswirkungen auf das gesamte Herz aufdecken können", sagt Mendjan. Dies gelinge durch einen ganzheitlichen Ansatz, indem mehrere Messwerte gleichzeitig betrachtet werden.

Künftig können Mehrkammer-Herzorganoide für toxikologische Studien und zur Entwicklung neuer Medikamente mit herzkammerspezifischen Wirkungen eingesetzt werden. Etwa bei den weitverbreiteten Vorhof­arrhythmien, für die noch keine gute medikamentöse Behandlung existiere. "Ein Grund dafür ist, dass es bisher keine Modelle gibt, in denen alle Regionen des sich entwickelnden Herzens koordiniert zusammenarbeiten", erläutert Mendjan. Herzfehler seien zwar weitverbreitet, die individuellen Ursachen seien aber oft unbekannt.

In Zukunft könnten Herzorganoide, die aus Stammzellen Betroffener entwickelt werden, Aufschluss über Entwicklungsfehler und darüber geben, wie diese behandelt und verhindert werden können. Nicht zuletzt wollen die Forschenden auch die Entwicklung des Organs enträtseln. "Wir haben jetzt eine Grundlage, um das weitere Wachstum und das Regenerationspotenzial des Herzens zu untersuchen", resümiert Mendjan. (Marlene Erhart, 28.11.2023)