Sind es schon wirklich zwei Monate nach dem 7. Oktober? In Österreich mag es bereits der 7. Dezember sein. Hier in Israel ist es immer noch der 7. Oktober, der längste Tag der israelischen Geschichte. Einen Tag nach dem anderen ist doch der nächste Morgen wieder der Morgen des 7. Oktober 2023, an dem die Terrororganisation Hamas 1200 Menschen bestialisch ermordete, Frauen vergewaltigte und mehr als 200 Menschen in den Gazastreifen verschleppte.

Es ist eine mythische Zeit. Während für den Rest der Welt die Zeit weitergeht, heißt das doch für den Nahen Osten, Israel und Gaza nicht nur keinen gemeinsamen Raum mit der Welt zu teilen, sondern auch keine gemeinsame Zeit. Jedes Sprechen, jedes Schreiben wird damit zu einer nicht zu bewältigenden Herausforderung. Denn jeder geschriebene oder gesprochene Beitrag – so wie dieser auch – soll ja zur Klärung beitragen. Sprecherinnen oder Schreiber machen sich Gedanken und teilen sie dem Publikum mit, das sich ebenfalls Gedanken macht und sich daraufhin eine Meinung bildet. So weit, so Aufklärung. So funktioniert Öffentlichkeit und mediale Vermittlung der Wirklichkeit. Wir wollen verstehen, Ursachen finden, Kontexte analysieren. Das gehört zum Handwerkszeug redlich denkender Menschen.

Alte Kategorien

Aber wir wissen nicht, was wir als Intellektuelle angesichts solcher unsäglichen Barbarei, die am 7. Oktober über Israel einbrach, sagen sollen. Wir drehen uns im Kreis, versuchen die Welt in alten Kategorien wie Besatzung, Unterdrückung oder Kolonialismus zu verstehen. Es sind bekannte Begriffe, aber sie taugen nicht mehr. Sie rahmen das Beispiellose mit Beispielen ein, um die Welt verständlicher zu machen, und bleiben doch erfahrbar falsch. Es gibt auch diejenigen, die sich von ihren moralischen Vorstellungen treiben lassen, ihre Unterschriften unter Aufrufe veröffentlichen, die natürlich Gewalt auf allen Seiten verurteilen mit klarer Zuweisung von Schuld und Unschuld. Auch das ist der Aufklärung und ihrem Begriff des Allgemeinen und der vermeintlichen moralischen Überlegenheit der Schwachen geschuldet.

Seit dem Morgen des 7. Oktober schauen wir in Israel in einen Abgrund, den wir uns in unseren schlimmsten Albträumen nicht hätten vorstellen können. Erinnerungen an Pogrome, an das Töten von Jüdinnen und Juden durch die Nazis im Rausch der Ekstase, an anti-jüdischen Hass sind nun Teil der israelischen Erfahrung, obwohl all diese Vergleiche der gerechtfertigten Gefühlswelt der Betroffenen geschuldet sind und keiner historischen Analyse standhalten. Denn ein Staat kann sich, anders als die Gesellschaft, keine Klagelieder leisten und muss handeln.

Zwei Frauen und ein Kind vor einer Wand, auf der Plakate angebracht sind, die von der Hamas entführte Israelis zeigen.
Bringt sie nach Hause, fordern Israelis seit zwei Monaten. Mehr als 100 Geiseln sind noch in der Gewalt der Hamas.
Foto: AP/Ohad Zwigenberg

Die Nachrichtenbilder zeigen und sprechen über die Verwüstungen des 7. Oktober, berichten über die Rückkehr der Geiseln, Kinder, Frauen, ältere Menschen, die mehr als 50 Tage bei der Hamas in Geiselhaft waren. Das bleibt ein Lichtstrahl im Dunkeln. Kinder, die aus der 50-tägigen Gefangenschaft nach Hause kommen und leise davon berichten, was ihnen angetan wurde. Sie wurden auch deshalb befreit, weil Israel Stärke zeigt.

Die Kampfhandlungen gehen nun seit letztem Freitag weiter. Die Hamas hat den einwöchigen Waffenstillstand gebrochen, und Israel ist wieder unter Raketenbeschuss. Noch sind 137 Geiseln in Gaza, und solange sie nicht zurück sind, wird der 7. Oktober nicht zum 8. Oktober werden und die Wunde offenbleiben. Es geht jetzt darum, die Geiseln nach Hause zu bringen, die Hamas zu bezwingen und sich dann nur aus einer Position der Stärke heraus einen Plan zu überlegen, wie unser Leben hier in Israel nach dem 7. Oktober weitergehen wird.

"Auch das israelische Friedenslager wird seine Grundannahmen ändern."

Auch wenn der Tag noch nicht vorbei ist, beweisen jetzt Staat und die Armee Stärke, die am Morgen des 7. Oktober fehlte, aber so nötig gewesen wäre. Und auch die Bürgerinnen und Bürger der israelischen Zivilgesellschaft, die bis zum 7. Oktober wöchentlich für die Demokratie kämpften, dienen in der Armee und arbeiten als Freiwillige überall da, wo der Staat noch versagt. Es ist Israels Krieg und nicht der Krieg der israelischen Regierung.

Alle Israelis wissen, dass es kein Zurück zum 6. Oktober geben wird. Auch das israelische Friedenslager wird seine Grundannahmen ändern. Sicher hat Israel Jahrzehnte lang Unrecht in Gaza begangen. Und die Besatzung führt viel zu oft zu Machtmissbrauch. Aber Hamas ist in der Tat keine gerechte, nach Demokratie strebende, antikolonialistische Organisation, wie sie von Teilen des progressiven Milieus außerhalb Israels gesehen wird. Hamas, das sind auch freie Akteure, die Handlungsspielraum haben und ausüben. Sie wollten dieses Massaker, und sie haben, wie die Vergewaltigungen der Frauen, die Erniedrigungen der Kinder und Grausamkeiten gegenüber Männern, stolz gefilmt und verbreitet.

Falsche Kompromisse

Dass dieser Handlungsspielraum von einer globalen Linken ausgeblendet wird, die in Texten und Theorien und nicht in Wirklichkeiten lebt, wird wohl zu einem Bruch mit progressiven Israelis führen, die jede auf falschen Kompromiss beruhende Zukunft erschweren werden.

Man wird hier damit leben müssen, so wie man nur hier in Israel Verantwortung für die Militäraktion tragen wird, die der Abschreckung dient, dass so etwas nicht wieder passieren darf. Die Alternative wäre die Selbstaufgabe. Auch deshalb ist die Reaktion so hart. Denn nur mit militärischer Stärke kann diese Aggression eingedämmt werden.

Das Massaker rechtfertigt den Krieg gegen die Hamas. Fast kein Israeli sieht das anders. Es ist auch ein Krieg, in dem unschuldige Menschen in Gaza getötet werden. Alle israelischen Bürgerinnen und Bürger tragen für diesen Krieg und seine Konsequenzen Verantwortung. Zu dieser gehört auch, sich Gedanken zu einer politischen Ordnung für den Tag danach zu machen. Denn wenn Israel am 8. Oktober ankommen wird, dann können und werden auch neue politische Pläne diskutiert werden können. (Natan Sznaider, 7.12.2023)