Gegen X (hier das Logo auf dem Hauptquartier in San Francisco) wurde Beschwerde bei der niederländischen Datenschutzbehörde erhoben.
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Die Vorwürfe gegen X, vormals Twitter, wiegen einmal mehr schwer. Das Unternehmen soll die politische Einstellung und die religiöse Überzeugung seiner Nutzerinnen und Nutzer für gezielte Werbung genutzt haben. Illegalerweise, muss man dazusagen. Das alles geschah noch dazu im Auftrag der EU-Kommission.

Die Vorgeschichte: Die EU-Kommission wollte unbedingt die anlasslose Chatkontrolle durchpeitschen. Deshalb ließ die zuständige Kommissarin Ylva Johansson Werbung schalten – ausgerechnet auf der von der EU immer so heftig kritisierten Plattform X. Diese Werbung wurde vor allem in Ländern ausgespielt, in denen die Mehrheitsmeinung gegen die Chatkontrolle war. Das alles sei nur deshalb möglich gewesen, weil Twitter sensible Daten und religiöse Ansichten der Nutzenden sammelt, kritisiert nun die Datenschutzorganisation Noyb.

Verstoß gegen die eigenen Werberichtlinien

Twitter analysiert dafür Klicks, Likes und Antworten auf Postings auf der eigenen Plattform und versucht daraus ein Profil über die politischen oder religiösen Ansichten der Userinnen und User zu erstellen. Im September 2023 nutzte die EU-Kommission genau diese Informationen, um für die höchst umstrittene und mittlerweile gescheiterte Chatkontrolle-Verordnung zu werben. Das Targeting-System von X ermöglichte es der Kommission, Nutzerinnen und Nutzer auf Basis ihrer politischen Einstellungen und religiösen Überzeugungen gezielt anzusprechen. Die fragliche Werbekampagne richtete sich an Personen, die nicht an Stichwörtern wie Brexit, Nigel Farrage oder Giorgia Meloni interessiert waren.

Schon im EU-Parlament sorgte dieses Vorgehen für heftige Debatten, wie der STANDARD berichtete, denn schließlich hat die Kommission selbst gegen die eigenen Regeln des DSA verstoßen. Aber auch Twitter dürfte nach Ansicht der Datenschutz-Organisation gegen die eigenen Richtlinien verstoßen. In den eigenen Werberichtlinien hält X fest, dass politische Zugehörigkeit und religiöse Überzeugungen nicht für zielgerichtete Werbung verwendet werden dürfen.

"In der Realität scheint X dieses Verbot in keiner Weise durchzusetzen – was es de facto bedeutungslos macht", teilte Noyb am Donnerstag in einer Aussendung mit. Die Kampagne der EU-Kommission wurde hunderttausenden niederländischen X-Nutzer:innen angezeigt. Der betreffende Beitrag ist übrigens weiterhin aufrufbar.

"Auf dem Papier verbietet X die Nutzung sensibler Daten für politische Werbung. In der Realität profitiert X noch immer von Techniken, von denen wir spätestens seit dem Cambridge-Analytica-Skandal im Jahr 2018 wissen, dass sie schädlich sind", so Maartje de Graaf, Datenschutzjuristin bei Noyb.

Kommission stoppte Werbung auf X

Die politische Einstellung und religiöse Überzeugung von Menschen genießen laut der DSGVO besonderen Schutz, argumentiert die Datenschützerin. Obwohl das bedeutet, dass sie nur unter besonderen Umständen verarbeitet werden dürfen, hat die EU-Kommission sie für das Micro-Targeting auf X verwendet. Das verstößt nicht nur gegen die DSGVO, sondern auch gegen den Digital Services Act (DSA). Noyb reicht deshalb eine Beschwerde bei der niederländischen Datenschutzbehörde ein. Angesichts der Schwere der Verstöße und der großen Zahl betroffener Personen schlägt Noyb außerdem vor, dass die zuständige Behörde ein Bußgeld verhängen sollte.

"Nachdem wir unsere erste Beschwerde in dieser Angelegenheit eingereicht haben, hat die EU-Kommission einen Werbestopp auf X verhängt. Um diesem Vorgehen generell ein Ende zu setzen, muss nun auch gegen X vorgegangen werden", erklärt Felix Mikolasch, Datenschutzjurist bei Noyb.

Vorgeschichte mit Beigeschmack

Die Datenschutzbeschwerde gegen X ist nur das jüngste Kapitel rund um die Pläne zur EU-Chatkontrolle. Im Zentrum der Affäre steht EU-Kommissarin Ylva Johansson. Dieser wird vorgeworfen, sie pflege ein zu nahes Verhältnis zur vermeintlichen Kinderschutzorganisation Thorn. Diese wurde von Ashton Kutcher und Demi Moore gegründet und betrieb in Brüssel massives Lobbying für den Entwurf. Dieser sah vor, dass Messengerdienste sämtliche Kommunikation überwachen und auf vermeintliches Material von Kindesmissbrauch scannen müssen. Das hätte zu einer nahezu lückenlosen Kommunikationsüberwachung und der Aushebelung der Verschlüsselung geführt, so die Kritik.

Durch die Tatsache, dass Thorn über ein Subunternehmen auch gleich die passende Software zur Erkennung von Missbrauchsmaterial verkauft, erhielt die politische Auseinandersetzung auch den Beigeschmack der Freunderlwirtschaft. Die Forderung nach politischen Konsequenzen für Johansson wurde laut. Diese versuchte das Ruder in Sachen fragwürdige Werbung noch herumzureißen, jedoch vergeblich. Die EU-Staaten konnten sich auf keinen gemeinsamen Nenner einigen und die Verhandlungen über die verpflichtende Chatkontrolle sind vorerst gescheitert. Damit ist das Thema Chatkontrolle wohl bis nach der Europawahl im Juni 2024 vom Tisch. (pez, 14.12.2023)