Schulszene
Auf der Suche nach der richtigen Formel für den Aufstieg: Bei Leistungstests hinken Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund nicht nur in Mathematik hinterher.
Fatih Aydogdu

Berichte über Radikalisierung und Gewaltausbrüche, Klagen über Personalnot und Überforderung, Studien über Lernschwächen und sinkende Leistungen: Österreichs Schulen machen seit geraumer Zeit unrühmliche Schlagzeilen – und im Mittelpunkt stehen dabei sehr oft Zuwandererkids.

Das Panoptikum der düsteren Momentaufnahmen legt einen Schluss nahe: Die heimischen Bildungsstätten scheitern krachend an der Integration der vielen Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Oder doch nicht? Die Suche nach Antworten führt diesmal bewusst an anekdotischen Stimmungsberichten und Einzelfallschilderungen vorbei. Maßstab sollen jene Daten sein, die ein Gesamtbild vom Abschneiden der Schülerinnen und Schüler bieten.

Ernüchternde Pisa-Ergebnisse

Der erste Stopp ist – wie könnte es anders sein – Pisa. Minister Martin Polaschek von der ÖVP ist so ziemlich der einzige Akteur im Bildungssystem, der die Ergebnisse des jüngsten Vergleichstests der OECD für "durchaus erfreulich" hält. Einmal mehr zeigte sich: Schulische Leistungen hängen hierzulande stark von der Herkunft ab. In Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften verbuchen die 15- und 16-Jährigen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu autochthonen Gleichaltrigen Rückstände, die zwei bis drei Lernjahren entsprechen.

Liegt das nicht in der Natur der Sache, weil Neuankömmlinge nun einmal schlechter die Sprache beherrschen? Dieser Einwand ist nur begrenzt stichhaltig. 63 Prozent der von Pisa erfassten Schüler mit Migrationshintergrund sind in Österreich geboren. Lediglich sieben Prozent waren bei ihrer Ankunft im Land älter als zwölf Jahre.

Aufgeholt hat die Gruppe der Zuwandererkinder über die Testjahre hinweg nicht. Lediglich in Mathematik ist der Gap zu den Altersgenossen ohne ausländische Wurzeln seit 2015 geschrumpft – aber auch nur deshalb, weil Letztere noch stärker nachgelassen haben.

Zwei Drittel verfehlen Ziele

Abseits der OECD-Daten offenbart sich ein ähnliches Bild. Als Österreich vor einigen Jahre abtestete, ob Schülerinnen und Schüler die nationalen BildungsStandards erfüllten, fiel das Resultat ernüchternd aus. In Lesen wie in Mathe erreichten mehr als zwei Drittel der Migranten die gesetzten Limits nicht oder nur teilweise.

Oder: In Wien wird laut Statistik Austria jeder siebente Volksschüler als "außerordentlich" qualifiziert, weil er oder sie dem Unterricht mangels Deutschkenntnissen nicht gut genug folgen kann. Wie die Stadtregierung im Vorjahr bekanntgab, waren im Schuljahr 2020/21 60 Prozent davon in Österreich geboren. Diese Kinder sind also hier aufgewachsen, haben einen Kindergarten besucht – und scheitern dennoch an der Sprache.

Schrittweise ausgesiebt

Was die reichlich diagnostizierten Kompetenzdefizite für die weitere Bildungslaufbahn bedeuten, hat Mario Steiner vom Institut für Höhere Studien (IHS) analysiert. Conclusio seiner Untersuchungen: Schritt für Schritt würden Burschen und Mädchen mit Migrationshintergrund, wie es der Forscher ausdrückt, "hinausselektiert".

Schon der Sprung von der Pflichtschule in die sogenannte Sekundarstufe 2 – die neunte bis dreizehnte Schulstufe – fällt Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Umgangssprache schwerer als den Sprösslingen eingesessener Österreicher. Besonders unterrepräsentiert sind die Zuwandererkinder in den Gymnasien und HTLs.

Mangelnde Unterstützung

Von jenen, die es erst einmal geschafft haben, gehen in der Folge überproportional viele wieder verloren. Aus den allgemeinen höheren Schulen (AHS) scheiden laut der noch vor der 2020 ausgebrochenen Corona-Pandemie erhobenen Daten fast 42 Prozent der Schüler mit nichtdeutscher Umgangssprache ohne Abschluss aus. Bei den Schulkolleginnen und -kollegen ohne ausländische Wurzeln beträgt die Drop-out-Quote "nur" 23 Prozent.

Dafür sind die Migranten in Sonderschulen überrepräsentiert. Ihre Zahl ist um fast 50 Prozent höher, als diese gemäß dem Anteil an der Gesamtpopulation sein sollte. Dabei sei diese Form der Bildungsstätte gar nicht für Kinder und Jugendliche gemacht, bei denen einfach nur die Deutschkenntnisse unzureichend sind, sagt Steiner: "Doch weil es im Regelschulbetrieb oft an spezieller Unterstützung mangelt, werden sie einfach dorthin geschickt."

Jeder Dritte bricht ab

Die bittere Bilanz, in diesem Fall nach dem Kriterium des Geburtslandes: Fast ein Drittel aller außerhalb der EU geborenen 14- bis 25-Jährigen fällt laut Steiners Berechnung am Ende in die Kategorie der frühen Bildungsabbrecher, verfügt also über keinen Abschluss über die Pflichtschule hinaus und besucht auch keine Schule mehr. Unter den hierzulande Geborenen beträgt der Anteil lediglich neun Prozent.

Wie sich dieser Status in der Berufskarriere niederschlägt, lässt sich aus den Zahlen des Arbeitsmarktservice (AMS) herauslesen. Mit 20 Prozent ist die Arbeitslosenquote bei jenen Menschen mit Abstand am höchsten, die nicht mehr als einen Pflichtschulabschluss vorweisen können. Für Absolventen einer AHS oder einer Lehre hingegen liegt das Risiko, ohne Job dazustehen, nur bei rund fünf Prozent.

Und dennoch: Steiner sträubt sich, den Schulen ein Scheitern nachzusagen. Vor jedem Urteil sei zu bedenken, dass die heimischen Bildungseinrichtungen in Sachen Integration vor überdurchschnittlichen Herausforderungen stünden. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund hat sich laut Pisa seit dem Jahr 2000 von elf auf 27 Prozent mehr als verdoppelt. Von den europäischen OECD-Staaten liegt nur die Schweiz mit 35 Prozent darüber.

Kein Deutsch zuhause

Besonders hoch ist mit 75 Prozent auch der Anteil jener getesteten Schüler, die zu Hause nicht Deutsch sprechen – und das, obwohl die größte Zuwanderergruppe in Österreich die Deutschen sind. Unter den restlichen Migranten sei diese Quote de facto also noch deutlich höher, sagt der Experte. Auch das mache die Aufgabe der Schulen schwieriger.

Aber ist die Tatsache, dass so viele zu Hause eine andere Sprache verwenden, nicht auch schon Folge misslungener Integration? Natürlich sei es ein Problem, dass viele Migranten Parallelgesellschaften bildeten, in denen sie unter sich blieben, sagt Steiner: "Doch das kann man nicht den Schulen anlasten."

Vorsicht beim Vergleich

Es gibt noch weitere Gründe, warum internationale Vergleiche des Integrationserfolgs mit Vorsicht zu genießen sind. So machen auch Herkunft und Motive der Migranten einen Unterschied. Ein Staat wird sich mit gezielt rekrutierten Arbeitssuchenden leichter tun als mit Flüchtlingen aus einem "failed state", die von traumatischen Kriegserlebnissen ins Land getrieben wurden.

Es ergebe keinen Sinn, Österreich bei Pisa mit Kanada oder Singapur zu vergleichen, sagt Johann Bacher von der Universität Linz. Stärker böten sich Schweden oder Deutschland an, und da schneidet die Republik nicht schlechter ab. Das gilt erst recht für den Vergleich mit Finnland, das einst als Bildungswunderland galt. Trotz eines viel geringeren Anteils an der Schülerzahl fallen die Migrantenkids dort noch deutlich stärker ab als in Österreich.

Viele schaffen es doch

Auch Bacher will sich kein vernichtendes Urteil entlocken lassen: Auf die Frage nach dem Integrationsversagen könne er nur ein urösterreichisches Jein anbieten.

Denn so erschreckend die Ergebnisse der Leistungstests auch klingen mögen – viele Migranten holten im Laufe ihrer Bildungskarrieren mit Fleiß und Motivation auf. Am Ende schaffe die überwiegende Mehrheit doch jenen Abschluss über die Pflichtschule hinaus, der das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes, mündiges Leben sei, sagt der Soziologe: "Das ist eine Erfolgsstory, die ebenfalls erzählt werden muss."

Bacher zitiert etwas positivere Zahlen als sein IHS-Kollege Steiner. Demnach scheitern nur 20 statt gut 30 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund am Abschluss jenseits der Pflichtschule. Abgesehen von unterschiedlicher Eingrenzung – bei Bacher sind auch Zuwanderer aus der EU dabei – lässt sich die Diskrepanz mit den Datenquellen erklären. Die optimistischeren Ergebnisse leiten sich von Umfragen ab. Gerade Menschen mit niedriger Bildung nehmen jedoch in der Regel seltener an solchen teil – und manche geben sozial gewünschte, also beschönigende Antworten.

Vererbte Bildung

So oder so sei die Quote der Abgehängten aber zu hoch, sagt der Forscher aus Linz. Schließlich habe nicht nur der Einzelne, sondern die gesamte Gesellschaft negative Folgen zu tragen: Wem es an Bildung mangle, sei häufiger arbeitslos, arm, politisch desinteressiert und krank, sterbe früher, beteilige sich weniger am gesellschaftlichen Leben und fühle sich öfter ausgegrenzt.

Wo anzusetzen ist? Auch da bietet Pisa Hinweise. Denn die Testreihe zeigt, dass Erfolg hierzulande in großem Maße vererbt wird. Je höher Bildungsniveau, berufliche Stellung und Wohlstand der Eltern sind, desto besser schneidet der Nachwuchs ab. Schülerinnen und Schüler aus gut situierten Häusern liegen im Schnitt um 109 Punkte (Mathe), 115 Punkte (Lesen) und 128 Punkte (Naturwissenschaften) vor Gleichaltrigen mit niedrigem Sozialstatus. Zur Orientierung: Ein Abstand von 25 Punkten entspricht in Österreich in etwa einem ganzen Lernjahr.

Fehlen den Eltern selbst Schulwissen und Sprachkenntnisse, können sie den eigenen Kindern eben schwerlich bei Hausaufgaben helfen. An Büchern und Geld für Nachhilfe mangelt es ebenso wie an Rückzugsräumen für konzentrierte Arbeit – und mitunter auch am Verständnis für die Notwendigkeit von Bildung.

Es sind vielfach Zuwandererkinder, die diesen Effekt spüren. Der sozioökonomische Background erklärt letztlich zur Hälfte den Rückstand, den diese Gruppe beim Pisa-Test aufgerissen hat. Der Rest liegt folglich an Faktoren, die direkt mit der Migration zusammenhängen. Das reicht von Sprachproblemen bis zu möglichen kulturellen Einflüssen – etwa fehlendem Verständnis in konservativen Familien, dass auch Mädchen Karriere machen sollen.

Was die Eltern nicht leisten könnten, müsse die Schule kompensieren, fordern viele Expertinnen und Experten unisono – doch genau da klaffe die große Lücke. Mit der Fixierung auf den Halbtagesunterricht sei das heimische Schulsystem darauf zugeschnitten, dass der Erfolg von der Mitarbeit der Mütter und Väter an den Nachmittagen abhängt.

Ganztags in die Schule

Als Maßnahme Nummer eins bietet sich deshalb der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschule an. Damit aber alle Sorgenkinder erwischt werden, müsste das Modell entgegen der Linie der regierenden ÖVP wohl verpflichtend sein.

Darüber hinaus gibt es ein Rezept, das sich die Bildungspolitik längst selbst verordnet hat. Seit 2017 steht im Gesetz, dass die Zuteilung der Ressourcen für Schulen auch am sozioökonomischen Hintergrund und der Alltagssprache der Schüler zu bemessen ist: Je größer die Herausforderung, desto mehr Geld solle fließen, etwa für Unterstützungspersonal wie Sozialarbeiter. Geworden ist daraus bis dato aber nur ein von der türkis-grünen Regierung initiierter Pilotversuch an 100 sogenannten Brennpunktschulen.

Mittel gegen soziale Trennung

Experte Steiner erhofft sich davon auch ein Mittel gegen die zumindest in Wien mancherorts schon bei der Wahl der Volksschulen stattfindende soziale Trennung: Die Eltern aus den Bildungsschichten schicken ihre Kinder an die Standorte mit dem guten Ruf, an den anderen ballt sich die integrationsbedürftige Klientel. Zahle es sich aus, Migranten aufzunehmen, würden diese zu einem begehrten Gut, glaubt Steiner: "Dann sind Brennpunktschulen Geschichte."

Dafür müsse die Politik aber einen Handlungsauftrag erkennen – und genau das vermisse er in der Reaktion des Ministers Polaschek auf Pisa. Dass die Ergebnisse erfreulich seien, könne er als Wissenschafter kein bisschen teilen: "Das ist eine exklusive Sichtweise, die der Politik vorbehalten bleibt." (Gerald John, 16.12.2023)