Morawiecki im polnischen Parlament mit zusammengeballten Händen
Hielt an der Macht fest: Premier Mateusz Morawiecki.
Foto: Reuters / Aleksandra Szmigiel

Erst mehr als zwei Monate nachdem bei den Parlamentswahlen in Polen die prodemokratischen Parteien eindeutig gewonnen hatten, wurde Oppositionsführer Donald Tusk als Ministerpräsident vereidigt. Zunächst hatte Präsident Andrzej Duda erneut Mateusz Morawiecki von der rechtspopulistischen Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) ernannt – damit dieser angeblich eine Regierung bilden sollte. Dabei war bereits erkennbar, dass er damit im Parlament kein Vertrauensvotum gewinnen konnte.

Solche – nicht illegale, aber definitiv illegitime – Verzögerungstaktiken liegen bei demokratischen Wahlen leider im Trend. Immer mehr Wahlverlierer weigern sich, ihre Niederlage zu akzeptieren. Offensichtliche Beispiele dafür sind die Tumulte in Washington, D.C., vom Jänner 2021 und in Brasília vom Jänner 2023.

Politik – ein "Wiederholungsspiel"

Aber um Wahlergebnisse zu ignorieren, gibt es noch viel subtilere Strategien: Sie müssen keine gewaltsamen Zusammenstöße mit der Polizei bedeuten, sondern können still und heimlich im Büro ausgeheckt werden. Die Akteure dort sind keine Milizen oder Hooligans in den Farben einer Fußballmannschaft, sondern schlaue Rechtsanwälte, die die Regeln dieses Spiels voll ausreizen – was Forscher "autokratischen Legalismus" nennen.

Die repräsentative Demokratie baut auf dem Glauben auf, dass die Verlierer einer Wahl immer eine neue Chance bekommen, eine Mehrheit zu bilden, und dass keine politische Entscheidung unumkehrbar ist. Der erste Aspekt entspricht einem System, das durch die Idee des "Wiederholungsspiels" geprägt ist – und in dem keine Wahl jemals die letzte ist. Aber der zweite ist problematischer, da politische Aktionen manchmal Folgen haben, die nicht mehr rückgängig zu machen sind – selbst wenn die neu gewählte Partei radikal ihren Kurs ändert.

Drei Forderungen

Obwohl neue Regierungen meist auch nicht völlig unschuldig sind, können sie an ihre scheidenden Vorgänger drei berechtigte Forderungen stellen: keine politischen Kandidatinnen und Kandidaten oder Maßnahmen in letzter Minute durchsetzen und vor allem keine strukturellen Veränderungen vornehmen, die die Befugnisse der Regierung schwächen.

Tusk (rechts), Duda (links) halten ein Dokument in die Kamera
Musste auf seine Angelobung warten: Polens Premierminister Donald Tusk, im Bild mit Präsident Andrzej Duda.
Foto: Reuters / Aleksandra Szmigiel

Polens rechte Populisten haben es geschafft, an der Macht festzuhalten, indem sie sich für jede ihrer Entscheidungen die rechtlich maximale Zeit genommen haben. Duda wartete mit der Ernennung eines Ministerpräsidenten so lange wie irgend möglich. Obwohl er wusste, dass Morawiecki keine parlamentarische Mehrheit bekommen würde, konnte er der PiS die erste Chance zur Bildung einer Regierung geben, da sie die Partei mit den meisten Wählerinnen- und Wählerstimmen war. Morawiecki wiederum verzögerte die Vorstellung seiner Regierung vor dem Sejm, dem Unterhaus des Parlaments, bis zum letztmöglichen Moment.

Last-Minute-Besetzungen

Begleitet wurden diese Schachzüge von einer ständigen Litanei des PiS-Chefs Jarosław Kaczyński, der mehrmals behauptete, die Wahl sei manipuliert und von externen Mächten – insbesondere Deutschland – gestohlen worden. Die Machtübergabe stellte er nicht nur als Fehler dar – was alle Politikerinnen und Politker in einer Demokratie tun könnten –, sondern als Verrat am Land – was nur Rechtspopulisten und Möchtegernautokraten behaupten.

Während der Zeit, die die PiS durch ihren Marionettenpräsidenten gewonnen hatte, besetzte die Partei freie Stellen in staatlichen Gremien und Kommissionen mit Loyalisten. Selbst wenn diese Leute Tusk das Leben extrem schwer machen, wird es so gut wie unmöglich sein, sie wieder loszuwerden, da ihre Ernennung im Prinzip nicht illegal war.

Außerdem hat die PiS-Regierung Geld in Stiftungen und Institute geschaufelt, die ihre Lieblingsthemen – "christliches Erbe" oder Nationalismus – vertreten. Offensichtlich bieten solche Institutionen lukrative Ruheposten, aber ebenso können sie die politische Kultur langfristig beeinflussen. Noch bedenklicher sind in letzter Minute durchgesetzte Änderungen des Justizsystems wie die Senkung der beschlussfähigen Mehrheit für gerichtliche Entscheidungen, die gewährleistet, dass von Duda ernannte Richter in den nächsten Jahren mit größerer Wahrscheinlichkeit im Amt bleiben.

Politische Fallstricke

Sicherlich haben auch Parteien ohne autokratische Tendenzen ihren Nachfolgern politische Fallstricke hinterlassen – aber normalerweise bevor sie Wahlen ausrufen, die sie vermutlich verlieren. In Großbritannien haben die Konservativen vor der Wahl von 1997, die haushoch von der Opposition gewonnen wurde, strenge Ausgabengrenzen durchgesetzt. Die neue Labour-Regierung hatte dann Angst, haushaltspolitisch unvernünftig zu erscheinen, und hat die Grenzen beibehalten. Dies führte zu einer – völlig unnötigen – Unterfinanzierung der britischen öffentlichen Dienste. Labour wiederum erhöhte, bevor die Konservativen 2010 wieder an die Macht kamen, die Steuern und drückte ein paar progressive Gesetze durch.

Auch wenn solche politischen Fallstricke unfair sind, können sie doch bemerkt und theoretisch wieder entfernt werden. Viel problematischer hingegen ist es, wenn Wahlgewinnern durch strukturelle Veränderungen Schaden zugefügt wird. Als die Oppositionsparteien in Istanbul und Budapest Wahlen gewannen, strichen die rechtspopulistisch geführten Nationalregierungen den Städten einfach die Finanzmittel und Kompetenzen. Und in North Carolina entriss ein aus dem Amt scheidender republikanischer Gouverneur seinem demokratischen Nachfolger mithilfe staatlicher Gesetze wichtige Exekutivrechte.

Neue Regeln

Was kann getan werden, um solche legalistischen Autokraten zu stoppen? Zunächst einmal könnten neue Regeln Ernennungen in letzter Minute erschweren. Natürlich liegt das Problem wie bei so vielen Schutzmaßnahmen für die Demokratie darin, dass Regeln zum eigenen Vorteil missbraucht werden können: 2016 argumentierten Republikaner im US-Senat, ein Präsident sollte in Wahljahren keine Obersten Richter mehr ernennen dürfen, nur um dann, als sie direkt vor der Wahl von 2020 die Möglichkeit hatten, ihren eigenen Kandidaten durchzusetzen, eine Kehrtwende zu machen.

"Möchtegernautokraten werden einfach immer schamloser."

Aus dem Amt scheidende Regierungen – die letztlich Übergangsverwaltungen sind – sollten dazu verpflichtet werden, in der Gesetzgebung zusätzliche Diskussionsmöglichkeiten zu schaffen. Dies würde eventuelle Änderungen verzögern und dringend nötige Öffentlichkeit schaffen, auch wenn Transparenz allein nicht reicht: Die Möchtegernautokraten, insbesondere jene, die legalistische Strategien betreiben, werden einfach immer schamloser.

Aber wenn wir nicht wissen, was eine scheidende Regierung tut, kann es noch nicht einmal Scham geben. Wissen wir es, können sich Oppositionsparteien und sogar die Zivilgesellschaft dann gegen die Verlierer, die sich selbst als Gewinner darstellen, wenigstens wehren. Immerhin haben sie die Mehrheit auf ihrer Seite. (Jan-Werner Müller, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 7.1.2024)