Illustration mit Schülerinnen und Schülern in der Schule, zwei Mädchen und zwei Buben stehen hinter einem Aufgeschlagenen Buch mit, auf den Seiten stehen Themen wie Ukraine, Krieg, Nahost.
Heikle politische Themen gehören auch in der Schule besprochen.
Illustration: Fatih Aydogdu

Seit dem terroristischen Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 stehen auch die Schulen in Österreich vor erheblichen Herausforderungen. Ein Anstieg antisemitischer Vorfälle sowie die Thematisierung des Kriegs in Gaza sind zum Bestandteil des pädagogischen Alltags von Lehrkräften geworden. Warum auch nicht? Die Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft, und soziale und politische Konfliktlagen machen am Schultor nicht halt. Dies ist keine neue Erkenntnis, und oft wird sie von dem Anspruch begleitet, die Schulen sollten die Konfliktlagen pädagogisch bearbeiten und möglichst beseitigen. Aber es scheint auch Zweifel zu geben, ob das schulische Personal hinreichend vorbereitet ist.

Tatsächlich berichten auch langjährig erfahrene und fachlich kompetente Lehrerinnen und Lehrer, dass sie bei der aktuellen Konfliktlage an ihre Grenzen stoßen und sich dabei ertappen, die virulenten Problematiken eher zu vermeiden als zu thematisieren. Einigkeit besteht darin, dass zur Bewältigung der schulischen Herausforderungen Weiterbildungsangebote zum Antisemitismus und zum Nahostkonflikt nur ein "Tropfen auf den heißen Stein" sein können. Zusätzlich hat das Bildungsministerium nun Polizistinnen und Polizisten beauftragt, Workshops zur Extremismusprävention an Schulen anzubieten.

Mündig und tolerant

Wer ernsthaft daran interessiert ist, dass die Schule ihren Beitrag leistet zu Toleranz, zu einem friedlichen gesellschaftlichen Zusammenleben und damit letztlich zum Erhalt einer lebendigen und funktionsfähigen Demokratie, muss mehr bieten als punktuelle Hilfsangebote, die wie eine Verlegenheitslösung erscheinen. Zur Förderung mündiger, toleranter und demokratisch gesinnter Bürgerinnen und Bürger bedarf es an der Schule der Politischen Bildung.

Die Politikdidaktik im deutschsprachigen Raum sowie die Citizenship Education in den angelsächsischen Ländern haben längst ein theoretisch begründetes und praktisch erprobtes Instrumentarium etabliert, um auch heikle politische Konflikte und hochkontroverse gesellschaftliche Diskurse im Klassenzimmer thematisieren zu können. Eine zentrale Grundlage hierfür ist als Beutelsbacher Konsens bekannt geworden. Dieser beschreibt ein politisch-pädagogisches Ethos aus der Kombination von Überwältigungsverbot (also keine Indoktrination), der Beachtung von kontroversen Positionen und von Mitsprache. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben davon gehört. Aber für die gelungene Umsetzung bedarf es einer soliden Ausbildung auf Basis eines sozialwissenschaftlichen Studiums.

Zuhören und streiten

In der aktuellen Lehramtsausbildung ist das nur sporadisch und nicht systematisch möglich. Gute Politische Bildung erfordert in Studium und Unterricht mehr Zeit. Politische Kontroversität zu unterrichten bedeutet nicht nur, verschiedene Perspektiven auf eine politische Konfliktlage zu präsentieren. Es bedarf einer Sensibilität für das Bürgerbewusstsein der Schülerinnen und Schüler. Ihre fachlichen Vorstellungen, ihre inhaltlichen Positionierungen und ihre subjektiven Empfindungen des Gegenstands müssen durch Politische Bildung aufgegriffen werden. Es geht dabei auch um Zuhören, darum, ins Gespräch zu kommen, miteinander zu streiten und sich doch im Diskurs mit den Klassenkolleginnen und -kollegen wie auch der Lehrkraft sowie in Auseinandersetzung mit den entsprechenden Hintergrundinformationen politisch zu bilden.

Eine demokratische, tolerante Grundhaltung lässt sich weder verordnen noch durch Polizeikräfte vermitteln. Sie ist zu erstreiten. Problematische Sichtweisen wie etwa antisemitische Ressentiments lassen sich nicht einfach verbieten, sie müssen pädagogisch durch eine diskursive, fakten- und argumentationsgestützte Herangehensweise herausgefordert werden.

"Schülerinnen und Schüler wünschen sich Diskurs, Austausch und Reibung."

Natürlich: Nicht alles kann pädagogisch gelöst werden, und extremistische Übergriffe sind gegebenenfalls polizeilich und strafrechtlich zu ahnden. Jedoch: Die Schule bleibt ein pädagogischer Raum, der auch dazu gedacht ist, soziale Chancengleichheit zu befördern. Hierhin kommen Kinder und Jugendliche in der Regel nicht als Radikalisierte – und zwar auch nicht jene, die durch besonders provokative Äußerungen auffallen. In der Regel wünschen sich Schülerinnen und Schüler, zumal in komplizierten, sie betreffenden Fragen, Diskurs, Austausch und Reibung. Wenn die Schule diesem Bedürfnis der Jugendlichen nicht entgegenzukommen vermag, wird eine wesentliche Chance der primären Prävention vertan.

Ohne Politische Bildung wird es nicht gehen. Einem Unterrichtsfach Politische Bildung kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu, weil es wie kein anderes die Kontroversität und Komplexität des Politischen zum Gegenstand hat. Der Aspekt der sozialen Makroebene, die Vielschichtigkeit, Unübersichtlichkeit und Konfliktualität jeglicher politischen Fragestellung stehen im Zentrum der Politischen Bildung. So trägt sie dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeit weiterentwickeln, das Vorhandensein widersprüchlicher, konkurrierender Interessen in einer pluralistischen Gesellschaft zu erkennen und auszuhalten.

Zeichen der Hilflosigkeit

Diese Ambiguitätstoleranz ist dringend erforderlich, wenn es darum gehen soll, dass Fragen und Probleme des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens – also politische Fragen – gewaltfrei und demokratisch gelöst werden. Die Beauftragung von Polizistinnen und Polizisten demonstriert eine bildungspolitische Hilflosigkeit hinsichtlich der Frage, wie mit dem Nahostkonflikt und den damit einhergehenden Problemen im Klassenzimmer umgegangen werden soll. Es ist höchste Zeit für die Einrichtung eines eigenständigen Unterrichtsfachs Politische Bildung.

Wenn der Sozialphilosoph Oskar Negt damit Recht hat, dass die Demokratie die einzige Regierungsform ist, die gelernt werden muss, dann ist es höchste Zeit, dafür auch die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. (Alexandra Amante, Dirk Lange, 3.2.2024)