Der Bahnhof am Wiener Praterstern.
Der Wiener Praterstern ist für viele Jugendliche ein beliebter Treffpunkt, aber auch ein Ort, um Drogen zu kaufen.
Heribert Corn

Leonie (13), im Sommer 2021 von drei Afghanen (damals 18, 19, 22 Jahre alt) mit einer tödlichen Dosis Ecstasy wehrlos gemacht und vergewaltigt. Am Ende tot neben einer Straße in Wien-Donaustadt abgelegt. Eine Jugendliche, Überdosis-erfahren, im Dezember 2023 Koks und Sex mit einem 54-jährigen Rumänen, den die 16-Jährige einen Tag kannte, tot in einer Wohnung in der Nähe des Westbahnhofs aufgefunden. Eine Zwölfjährige in Favoriten, mutmaßlich von 17 Verdächtigen zwischen 13 und 18 über Monate sexuell missbraucht und unter Druck gesetzt. Das Mädchen (14) aus Niederösterreich, das in Simmering starb – bei einem 26-jährigen Afghanen, keine Hinweise auf Fremdverschulden oder Gewalteinwirkung. Medikamentenüberdosis.

Vier aufwühlende, vier unterschiedliche Fälle. Und doch erzählen sie etwas über das Leben und die Welt von Kindern und Jugendlichen, wie sie sich für einige von ihnen darstellt. Es geht um kindliche Hoffnungen und Nöte. Um Jugendliche, die an den falschen Orten Sicherheit suchen oder aus einer tristen Realität in einen gefährlichen Rausch flüchten. In der Anonymität der Großstadt geht das leicht. Aber wie kommt es zu diesen Fällen?

Spurensuche in einem schwierigen und unübersichtlichen Feld.

Schleichender Täterprozess

Wenn Jugendliche nicht weiterwissen, es zu Hause einfach nicht mehr aushalten, dann finden sie in Wien in a_way einen Unterschlupf. Thomas Adrian leitet die Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene der Caritas. Der Sozialarbeiter kennt das Phänomen, dass Mädchen ihren oft nur flüchtigen Bekanntschaften in eine fremde Wohnung folgen – und sich in vermeintlicher Sicherheit wähnen. "Am Anfang sagt er ihr, dass er ihr hilft, dass sie einmal in Ruhe schlafen soll, dann geht das immer weiter, bis sich daraus ein sexueller Übergriff entwickeln kann", erzählt Adrian. "Das ist oft ein schleichender Täterprozess. Mädchen und Frauen leben leider oft in Zweckgemeinschaften."

Jene Mädchen würden die lauernde Gefahr schlicht nicht erkennen. Meist gehe die mangelnde Risikoeinschätzung mit einer psychischen Belastung oder Erkrankung einher, sagt Adrian. Aber auch damit, dass den Mädchen in ihrer Krisensituation das Korrektiv fehle: "Man ist vielleicht zum ersten Mal in so einer Situation. Wenn du niemanden hast, der mit dir redet und dich davor warnt, dass du nicht mit den drei Burschen mitgehen sollst, dann passiert dir das."

Gängig sei aber eben auch etwas anderes: dass Dealer süchtige Mädchen in ihre Wohnung locken, um ihnen Drogen gegen Geschlechtsverkehr zu verkaufen, erzählt der Sozialarbeiter. Ebenfalls ein hochgefährliches Unterfangen.

In Sachen Drogen sieht Adrian Mädchen und Burschen an anderer Stelle, aber gleichermaßen in Gefahr. Gerade seit der Corona-Pandemie sei der Zugang zu starken Substanzen durch das Darknet nicht nur billiger, sondern auch leichter geworden. Der Verkauf habe sich zunehmend in Wohnungen verlagert. Zusätzlich wird von der Fachöffentlichkeit beobachtet, dass unmündige Minderjährige, meist ab elf Jahren, von Dealern auf Bahnhöfen oder im öffentlichen Raum angeworben werden. In diesem zwielichtigen Milieu erst einmal angekommen, ist das Abrutschen in die Drogensucht nicht mehr fern. "Oft beginnt es mit der Frage: Hast du das schon probiert?"

Nicht auffindbare Kinder

Eine gefährliche Mischung prangerte auch die Staatsanwältin Anja Oberkofler in einem Plädoyer im März 2023 an: "Wir haben eine Elfjährige und eine 14-Jährige, die fremduntergebracht sind, entwurzelt, ohne Halt, und die Gesellschaft war nicht fähig, ihnen diesen Halt zu geben!", sagte sie damals in einem Prozess um schweren sexuellen Missbrauch Unmündiger und sexuellen Missbrauch Jugendlicher in Wien-Meidling. Angeklagt waren ein 19-jähriger Iraker und ein zwei Jahre jüngerer Österreicher, die den Mädchen, die sich eigentlich in Obhut der Wiener Kinder- und Jugendhilfe befanden, Ecstasy gegen sexuelle Handlungen gaben. Beide wurden verurteilt, ein Einzelfall ist das für den regelmäßigen Beobachter von Strafprozessen aber beileibe nicht.

Einige weitere Beispiele aus den vergangenen eineinhalb Jahren: Ein 33-jähriger Afghane offeriert einer 13-, einer 14- und einer 15-Jährigen in seiner kleinen Wohnung Sex gegen Marihuana. Ein 45 Jahre alter Rumäne und sein 17-jähriger Sohn vergehen sich in ihrer Wohnung an einer durch Alkohol- und Drogenkonsum bewusstlosen 15-Jährigen. Beim sexuellen Missbrauch der Wehrlosen nehmen die beiden sich wechselseitig auf und schicken die Bilder später an Bekannte. Ein 66-jähriger Österreicher wird verurteilt, da er in seiner Wohnung in Wien-Döbling suchtkranken und obdachlosen Frauen Kokain und Heroinersatzmedikamente gab. Entweder verlangte er Sex dafür oder missbrauchte die Ohnmächtigen – auch er filmte sich dabei. Und noch im Laufen ist ein Prozess gegen zwei Syrer, 35 und 36 Jahre alt. Laut Anklage sollen sie mindestens vier minderjährige Mädchen in Wien-Favoriten mit diversen Rauschmitteln, vor allem Kokain, versorgt haben, der Erstangeklagte soll mehrere Bilder und Videos des Genitalbereichs einer schlafenden 15-Jährigen angefertigt haben.

Der Grund, warum dieses Verfahren vertagt werden musste, ist symptomatisch für das von Anklägerin Oberkofler skizzierte Milieu, in dem sich alles abspielt: Ein Teil der als Zeuginnen geladenen minderjährigen Mädchen war nicht einmal mehr für die Polizei auffindbar. Denn, wie die Wiener Kinder- und Jugendhilfe bereits mehrmals betont hat, auch wenn die Jugendlichen in einem Krisenzentrum oder einer betreuten Wohngemeinschaft untergebracht seien, seien sie nicht eingesperrt. Es handelt sich bei diesen Kindern und Jugendlichen zwar nicht um Einzelfälle, es ist aber auch kein flächendeckendes Problem, wenn man den Zahlen der Kinder- und Jugendhilfe vertraut.

Im jüngsten verfügbaren Jahresbericht von 2022 steht, dass damals 1957 Minderjährige in einer Wohngemeinschaft wohnten, von denen 526 neu aufgenommen wurden. Das entspricht nicht einmal 0,15 Prozent aller in Wien gemeldeten Minderjährigen. Andererseits ist die Kindesabnahme die Ultima Ratio. Die betroffenen Heranwachsenden haben dann bereits oft verheerende Erfahrungen gemacht, psychische Probleme und einen problematischen Umgang mit Rauschmitteln.

Ein Gemeindebau in Wien-Simmerin, in dem ein 14-jähriges Mädchen aus Niederösterreich verstarb.
In diesem Gemeindebau in Simmering starb ein 14-jähriges Mädchen aus Niederösterreich in der Wohnung eines 26-jährigen Afghanen. Aktuell gehen die Behörden in dem Fall nicht von Fremdverschulden aus. Im Körper des Mädchens wurden Rückstände von Substanzen gefunden, die nun toxikologisch abgeklärt werden.
APA/GEORG HOCHMUTH

Dass die Drogenkonsumierenden jünger werden, bestätigt Ewald Lochner, der Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien – "vor allem Mädchen". Spitalseinweisungen von Kindern wegen Intoxikation, also Vergiftung, seien Alltag.

Das AKH nimmt laut der Leiterin der Uniklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Susanne Greber-Platzer, im Durchschnitt zwei bis drei Kinder oder Jugendliche pro Woche mit Intoxikationen auf: "Es betrifft schon Kinder ab elf Jahren, und es geht großteils um eine Überdosis an Medikamenten, dann auch Drogen, wo eine vitale Bedrohung vorliegt." Weniger schwere Fälle, etwa mit Alkohol, landen mit der Rettung in anderen Spitälern.

Der Drogenkoordinator führt den hohen Mädchenanteil darauf zurück, dass sie etwas früher in die Pubertät kämen, mit der generell ein höheres Risikoverhalten verbunden sei. Kämen dann Drogen dazu, könne das schnell ein buchstäblich lebensgefährlicher Mix werden, erklärt Lochner: "Da haben wir dann ein Risikokonsumverhalten, und sie gehen mit jemandem mit." Mitunter auch, weil das, was hinter ihnen liegt, oft schlimmer ist als die potenzielle Gefahr vor ihnen: "Diese Mädchen kommen oft aus sehr problematischen Familiensystemen, wo sie nie gelernt haben, was ein angemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis ist." An vielen sei deshalb die Kinder- und Jugendhilfe bereits dran. Oft stammen sie gar nicht aus Wien, sondern aus den Bundesländern, und stranden in der Großstadt.

Eskalativer Konsum

Wie sieht die Drogenlage konkret aus? Laut Lochner gab es in den vergangenen vier Jahren weder in Österreich noch in Wien einen Anstieg des Konsums, auch nicht bei den unter 25-Jährigen: "Aber es gibt eine Teilgruppe, eben meist Mädchen, die sehr intensiv, ja, eskalativ unterschiedliche Dinge konsumiert." Sehr oft seien das derzeit "Benzos", angstlösende, beruhigende Arzneistoffe, um 2,50 Euro die Packung zu haben, so gut wie immer mit Alkohol kombiniert, teilweise auch mit aufputschenden Amphetaminen.

An Psychopharmaka oder Schlafmittel kämen viele leicht, weil sie ihnen, teils eine Pandemiefolge, sogar regulär verschrieben worden seien – und dann untereinander getauscht. Natürlich sind auch illegale Substanzen im Spiel. Dazu kommt seit zwei Jahren der "Trend", dass die Kids schmerzstillende Mittel einnehmen, die es rezeptfrei zu kaufen gibt. Für den Rest seien gefälschte Rezepte in Umlauf. Darum hat die Stadt Wien eine Arbeitsgruppe mit Ärzte- und Apothekerkammer sowie Österreichischer Gesundheitskasse (ÖGK) initiiert, um den Benzo-Markt von der ärztlichen Verschreibung bis zur Abgabe in Apotheken aufzuklären.

Das Problem von Kindern und Drogen ist also ein bekanntes. Aber wird intensiv genug hingesehen? Von der Familie, von Jugendämtern, von Lehrerinnen und Lehrern etwa? Der Sozialarbeiter Thomas Adrian meint: nein. Grundsätzlich spielten Kinder und Jugendliche für die Politik keine Rolle: "Wir leben in einem Erwachsenensystem." Die Kinder- und Jugendhilfen Österreichs seien wohl auch deshalb chronisch unterbesetzt, sagt Adrian. "Wenn die aber nicht rechtzeitig hinschauen, dreht sich die Spirale immer weiter. Da ist das Leben der Jugendlichen viel schneller als die Ämter. Was ich mir aber dennoch nicht vorstellen kann: dass diese Kinder in der Schule oder in einem anderen sozialen Raum nicht auffallen. Auch hier braucht es mehr Ressourcen für Kindergarten und Schulpersonal."

Mehr Burschenarbeit

Das meint auch Eva Trettler: "Den Jugendlichen geht’s wirklich schlecht", sagt die Psychologin vom FEM Süd, dem Gesundheitszentrum für Frauen, Eltern und Mädchen an der Klinik Favoriten. Auch sie erzählt von einer besonderen Überlastung der Mädchen. "Die Jugendlichen werden die Corona-Zeit nicht vergessen. Das werden wir noch lange spüren." Die Rate der Suizidversuche von Mädchen etwa habe sich seit Pandemiebeginn verdoppelt.

Vielen der Mädchen, die sich "in risikohafte Situationen begeben", sei die Tragweite gar nicht bewusst. Das Sexualverhalten der Jugendlichen habe sich nämlich in den vergangenen zehn Jahren nicht verändert. Rund die Hälfte der Teenager hat mit 15 Jahren das "erste Mal". Aber, erklärt Trettler: "Je besser sie aufgeklärt sind und je höher das Bildungsniveau, desto später haben sie Sex und desto mehr verhüten sie."

Einrichtungen wie FEM Süd gehen daher bewusst dorthin, wo die Mädchen sind. In Schulen oder auch direkt in einen Gemeindebau beim Reumannplatz, wo niederschwellig und mehrsprachig Beratung und Projekte angeboten werden zu allem, was junge Frauen betrifft. Das ist aber nur die halbe Geschichte.

"Es ist natürlich wichtig, dass wir die Mädchen empowern", sagt Eva Trettler: "Aber parallel dazu muss es unbedingt auch feministische Burschenarbeit geben." Die gibt es auch, zum Beispiel das FEM-Pendant MEN für Männer, Väter und Burschen, aber insgesamt gebe es "viel zu wenige Ressourcen dafür", kritisiert Trettler: "Das muss auf allen Ebenen der Gesellschaft verankert werden."

Oder in den Worten von Bundespräsident Alexander Van der Bellen gesprochen: "Wie kommen Frauen dazu, dass es ihre Aufgabe ist, sich vor Gewalt zu schützen?" Es sei, betonte das Staatsoberhaupt, ein Auftrag für alle. (Jan Michael Marchart, Michael Möseneder, Lisa Nimmervoll, 9.3.2024)