Konflikte um Klimapolitik werden in Zukunft härter werden. Zivilgesellschaft und Wissenschaft mundtot zu machen wird langfristig nicht helfen, sagt die Soziologin Ruth Simsa im Gastkommentar.

Noch kein Schnee von gestern – eine junge Aktivistin Anfang Dezember im Protestcamp gegen die Stadtstraße.
Foto: Regine Hendrich

Die Stadt Wien macht oft sehr viel richtig. Bürgermeister Michael Ludwig wurde zuletzt angesichts einer konsistenten Covid-Politik auf Basis der Wissenschaft zu Recht gelobt. Die Politik der Stadt ist in vieler Hinsicht modern, die Lebensqualität entsprechend hoch.

Umso unbegreiflicher ist es, was derzeit im Zusammenhang mit der Besetzung der Baustelle der Stadtstraße Aspern passiert. Die Stadt Wien hat Drohbriefe mit der Aussicht auf Millionenklagen versendet, und zwar nicht nur an Aktivistinnen und Aktivisten, darunter eine 13-jährige Schülerin, sondern auch an Wissenschafterinnen und Wissenschafter sowie Mitglieder von Bürgerinitiativen, die an der Besetzung nicht beteiligt waren. Der Vorwurf gegen Letztere: mentale Unterstützung. Mentale Unterstützung ist etwa die Veröffentlichung von Studien, die zeigen, dass der Bau neuer Straßen zu mehr Verkehr führt und Alternativen zur Stadtstraße machbar und sinnvoller wären.

Strategische Klagen

Wenn mentale Unterstützung nun für die Stadt Wien als Anlass für mögliche Schadensersatzforderungen gilt, dann werden noch viele Drohungen fällig. Scientists for Future, eine Organisation, der in Österreich über tausend Wissenschafterinnen und Wissenschafter angehören, titelt sehr plakativ: Wer die Stadtstraße baut, bedroht die Zukunft unserer Kinder. Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Universitäten plädieren auf Basis ihrer Studien für nachhaltige Mobilitätskonzepte und legen Konzepte vor. Sie argumentieren auch, dass es sozialer wäre, die geplanten 460 Millionen Euro statt in eine mehrspurige Straße durch dichtbesiedeltes Wohngebiet in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs zu investieren – immerhin hat fast die Hälfte der Wiener Haushalte kein Auto, Personen mit geringem Einkommen sind hier überrepräsentiert.

Wissenschaftlich gibt es also viel Kritik an der Stadtstraße. Man muss aber nicht unbedingt gegen das Projekt sein, um die Politik der Klagsandrohungen nach dem Gießkannenprinzip abzulehnen. Was hier passiert, nennt die Soziologie Slapp (Strategic Lawsuits against Public Participation). Slapp sind strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung. Meist machen das Unternehmen, die damit ihren Kritikerinnen und Kritikern einen Schlag ins Gesicht verpassen. Selbst wenn die Klagen unhaltbar sind, die Aussicht auf lange Verfahren, Anwaltskosten und Strafzahlungen macht Angst, Unternehmen haben hier einen weit längeren Atem. Das Perfide: Diese Versuche, Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen, wirken nicht nur bei den Beklagten, sie schüchtern auch andere ein – und schwächen damit auch unsere Demokratie.

Menschen einbinden

Vonseiten der Politik sind solche Strategien gegenüber der Zivilgesellschaft eher von autoritären oder autoritär werdenden Regierungen bekannt. Hier wird die kritische Zivilgesellschaft diffamiert, finanziell ausgehungert, bedroht und mittels unterschiedlicher Rechtsmittel zu schwächen versucht. Internationale Studien zeigen, dass dies in den letzten Jahren zugenommen hat, auch in Ländern mit gut entwickelten Demokratien. Unter der ÖVP-FPÖ-Koalition hatten sich auch in Österreich die Bedingungen für regierungskritische Teile der Zivilgesellschaft stark verschlechtert. Möglichkeiten der politischen Beteiligung wurden systematisch eingeschränkt, und es gab neben häufigen Drohungen vonseiten der Politik auch vereinzelt Klagen gegen NGOs.

Nun gut, die Repression kritischer Stimmen durch Unternehmen oder autoritäre Regierungen ist vielleicht nicht so verwunderlich. Aber was ist denn in die SPÖ gefahren? Seit wann ist denn mentale Unterstützung von Kritik strafbar? Warum diskutiert eine Partei, die 2020 Wien zur kinder- und jugendfreundlichsten Stadt machen und Mitbestimmung stärken wollte, nicht mit den jungen Menschen? Warum erschlägt sie wissenschaftliche Ergebnisse gegen das Projekt mit einem gewaltigen Werbebudget?

"Verkehrsplanung ist keine Milchmädchenrechnung." Stadträtin Ulli Sima im Interview, im ALBUM der STANDARD-Wochenendausgabe (18./19.12.2021).
Foto: Heribert Corn / https://www.corn.at

Die SPÖ bedroht junge Menschen, die auf Basis der Wissenschaft friedlich gegen eine Straße in Autobahndimension und für ihre Zukunft protestieren. Wien kann das besser. Statt autoritärer Rückzugsgefechte gegen eine nachhaltige Mobilität sollte die Stadt diese Menschen ebenso einbinden wie die Expertise aus NGOs und Wissenschaft.

Es ist langfristig sicher keine kluge Strategie, ausgerechnet aufgeschlossene, umweltbewusste, wissenschaftsaffine, politisch engagierte junge Menschen vor den Kopf zu stoßen. Ihr Protest ist sicher unangenehm. Statt ihn zu unterdrücken, könnte er aber zum Anlass für eine mutige, konsequente und ökologische Mobilitätspolitik werden – damit die Stadt noch moderner und lebenswerter wird. (Ruth Simsa, 18.12.2021)