Architekturhistorikerin und Urbanistin Turit Fröbe schreibt in ihrem Gastkommentar über gute und schlechte Bausünden. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Architektin und Urbanistin Sabine Pollak: "Bauen nach Zahlen zerstört alles".

Bausünden sind besser als ihr Ruf. Vollkommen zu Unrecht sind sie verpönt, missachtet, geschmäht und unterschätzt. Doch das Hinsehen lohnt sich! Bei genauerer Betrachtung werden Sie feststellen, dass Bausünden sich nicht nur in ihrer Qualität, sondern auch in ihrer Genese erheblich voneinander unterscheiden. Sie verraten viel über die Städte, in denen sie zu finden sind, und können durchaus Potenzial haben.

Nicht wenige Bausünden haben ihren Status erworben, weil sie aus der Mode gekommen sind. Das ist ein normaler Prozess, da der Architekturgeschmack launisch ist und man nach 20 bis 25 Jahren unweigerlich nicht mehr ausstehen kann, was gerade noch en vogue war. Andere Gebäude sind bereits als Bausünde zur Welt gekommen, weil zum Beispiel etwas schiefgegangen ist. Nur in Einzelfällen entstehen Bausünden absichtlich oder werden billigend in Kauf genommen. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass es sich um einen Unfall handelt, das Ergebnis ein wenig überkandidelt erscheint, aber eigentlich gut gemeint war. Der sicherlich größte Teil dessen, was heute als "hässlich" empfunden wird, wurde erst im Nachhinein zur Bausünde durch Anbau, Umbau, Überformung, Kunst am Bau oder Dekoration.

Was ist gute, was schlechte Architektur? Den Diskurs über Bauten in Wien will "Wienschauen"-Blogger Georg Scherer anregen, auch im STANDARD.
Foto: www.wienschauen.at / Georg Scherer

Auch qualitativ unterscheiden sich die Bausünden erheblich voneinander. Originelle, bildgewaltige Bausünden, die von Ambition und Fantasie künden, sind fast so selten wie gute Architektur – und leider auch zunehmend vom Abriss bedroht, sofern sie überhaupt bis heute überlebt haben. Als Faustregel lässt sich formulieren: Je mehr Ablehnung und Unverständnis sie beim Betrachter auslösen, je größer ihr Störfaktor im Stadtbild ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich um eine gute Bausünde handelt oder um die Spektakelarchitektur eines Stararchitekten, die eines Tages wahrscheinlich den Status der originellen Bausünde erhalten wird.

"Statten Sie einer Bausünde, über die Sie sich besonders ärgern, einen Besuch ab."

Weitaus schlimmer als die guten Bausünden sind die schlechten Bausünden. Sie sind von derart penetranter Belanglosigkeit und Langeweile, dass es schwierig ist, ernsthaft Anstoß an ihnen zu nehmen. Anders als die guten Bausünden sind sie allgegenwärtig und verwandeln unsere Städte in einen uniformen Einheitsbrei. Während die gut gemachten, originellen Bausünden, die konsequent aus der Reihe tanzen, für jedermann gut erkennbar sind, sind die schlechten Bausünden so nichtssagend und lieblos, dass das Auge einfach abrutscht. Während es sich bei den guten Bausünden um Unikate handelt, die untrennbar mit ihrer Stadt verbunden sind und viel über sie aussagen, sind die schlechten Bausünden austauschbare Investorenmassenware.

Selbstverständlich wäre es schöner, wenn anstelle der gut gemachten Bausünden gute Architektur entstehen würde. Da es diese gegenwärtig nicht leicht hat, kann die gut gemachte Bausünde durchaus eine Option sein. Ärgerlich – da gebe ich Ihnen recht – sind Bausünden (auch die guten), wenn sie ohne Not in bestehende historische Gefüge gesetzt werden. Aber auch in dem Fall gilt: Sobald sie da sind, sollten Sie unbedingt Ihren Frieden mit den hässlichen Entlein machen. Es lohnt sich nicht, sich darüber aufzuregen.

Es braucht Eyecatcher

Vielmehr sollten Sie, um sich nicht unnötig unglücklich zu machen, so schnell wie möglich versuchen, sich mit den ungeliebten Objekten zu arrangieren, denn schon aus umwelt- und klimaschutzpolitischen Gründen kann es nicht unser Ziel sein, sie schnell wieder loszuwerden. Konzentrieren wir stattdessen alle Energie darauf, zukünftige Bausünden zu verhindern! Und üben wir uns im liebevollen Blick auf die gebaute Umwelt! Vergegenwärtigen Sie sich zum Beispiel, dass die Bausünde als Störfaktor im bestehenden historischen Gefüge gar nicht negativ sein muss. Architekturpsychologen gehen davon aus, dass wir zu 99,9 Prozent der Zeit unsere gebaute Umwelt, in der wir uns bewegen, überhaupt nicht wahrnehmen. Es braucht Eyecatcher, um unsere Aufmerksamkeit zu fesseln und uns die Umgebung wieder bewusst wahrnehmen zu lassen. Eine gut gemachte Bausünde kann dabei ähnlich wirksam ein wie gut gemachte Architektur. Sie lässt uns innehalten und bemerken, dass die gebaute Umwelt – bis auf eine Störstelle – wunderbar intakt ist.

"Tun Sie so, als handle es sich um eine bedeutende Sehenswürdigkeit."

Sollten Sie die sogenannten hässlichen Entlein unserer Städte nur vom reflexhaften Wegsehen kennen, empfehle ich Ihnen folgende Übungen: Statten Sie einer Bausünde, über die Sie sich besonders ärgern, einen Besuch ab und nehmen Sie sich ein bisschen Zeit. Betrachten Sie diese nun so wohlwollend wie möglich. Versuchen Sie, die Langeweile und alle negativen Empfindungen vorbeiziehen zu lassen, und schauen Sie, was danach passiert. Wenn Ihnen das schwerfällt, können Sie auch tun, als würde Ihnen das Objekt vor Ihnen gefallen. Tun Sie so, als handle es sich um eine bedeutende Sehenswürdigkeit und sammeln Sie Argumente dafür, warum jeder dieses Werk unbedingt gesehen haben sollte. Verfassen Sie eine Art Ode an das Gebäude! Alternativ können Sie sich auch vorstellen, dass Sie es selbst geplant haben.

Begründen Sie sorgfältig, warum es so aussieht, wie es aussieht. Nach dem "Spiel" können Sie das Objekt ja wieder so hässlich finden wie zuvor – Sie ahnen jedoch, dass das unter Umständen nicht so einfach möglich sein wird, da das Hinsehen hilft. Falls alles nicht wirkt, halten Sie es wie John Cage, der schrieb: "Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, dann versuche es vier Minuten lang. Wenn es dann immer noch langweilig ist, acht Minuten. Dann sechzehn. Dann zweiunddreißig. Irgendwann entdeckt man, dass es überhaupt nicht langweilig ist." Und dass es Schlimmeres gibt als Bausünden! (Turit Fröbe, 28.5.2022)