Brüssel sollte sich in der Region keinen Illusionen hingeben, sagt der Politikwissenschafter und ehemalige OSZE-Mitarbeiter Alexander Rhotert im Gastkommentar.

Milorad Dodik, rechts im Bild mit Aleksandar Vučić, hofft auf eine politische Rückkehr Donald Trumps.
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Am 6. Mai 1992 trafen sich die serbischen und kroatischen Nationalistenführer von Bosnien und Herzegowina, Radovan Karadžić und Mate Boban, in Graz, wo sie die Aufteilung des Landes vereinbarten. Diese Pläne basierten auf einem Abkommen, das die Präsidenten Serbiens und Kroatiens, Slobodan Milošević und Franjo Tuđman, im März 1991 im serbischen Karađorđevo geschlossen hatten. 30 Jahre später versuchen nun die Nachfolger dieser vier Kriegsherren mithilfe Moskaus die Kriegsziele zu erreichen.

Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und sein kroatischer Amtskollege Zoran Milanović haben ein Lobbynetzwerk gegen Bosnien quer durch die EU bis nach Brüssel gesponnen. Milorad Dodik und Dragan Čović, die Nachfolger Karadžićs und Bobans, arbeiten an der Zerstörung des Landes und seiner Nachkriegsordnung, des Friedensvertrags von Dayton. Dodik versucht den serbisch dominierten Landesteil, die Republika Srpska (RS), abzuspalten und Serbien anzugliedern. Serbiens Innenminister Aleksandar Vulin ist Protagonist des Plans zur Schaffung eines Großserbiens, der "Serbischen Welt", nämlich "einem politischen und staatlichen Raum", in dem alle Serben leben sollen.

Neues Wahlgesetz

Der HDZ-Vorsitzende Čović droht die für Oktober geplanten Wahlen zu boykottieren, sollte das Wahlgesetz nicht nach seinen ethno-nationalistischen Vorstellungen geändert werden. Eine zwielichtige Rolle spielen die EU-Vermittler Angelina Eichhorst und Olivér Várhelyi. Eichhorst hat den Ruf, Čovićs Forderungen zu vertreten. So übte sie immensen Druck auf die nicht nationalistisch Gesinnten aus, einer Ethnisierung des Wahlgesetzes zuzustimmen, obwohl dies nicht im Einklang mit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wäre.

Čovićs Ziel ist die Wiedererrichtung des kroatischen Teilstaats, der zu Kriegszeiten so genannten Kroatischen Republik Herceg-Bosna. Im Februar dieses Jahres appellierte er an die Abgeordneten des RS-Parlaments: "Beschützen Sie Ihre Republika Srpska!" Dodik fordert die Schaffung einer kroatischen Entität, wohl wissend, dass dies das Ende des von ihm verhassten Bosniens wäre.

"Niemand sollte der Illusion verfallen, Dodik hätte seine Sezessionspläne auf Eis gelegt."

EU-Erweiterungskommissar Várhelyi, ein Vertrauter Viktor Orbáns,bescheinigte Belgrad unlängst, "gute Fortschritte" gemacht zu haben. Dass Transparency International dies am selben Tag völlig anders sah und Belgrad attestierte, keine Demokratie, sondern ein "hybrides System" zu sein, scheint in Brüssel niemanden zu stören. Várhelyi bewahrte Dodik vor EU-Sanktionen, die die USA 2017 verhängten und im Jänner verschärften.

Dodiks Unabhängigkeitspläne, die das RS-Parlament im Dezember verabschiedet hatte, scheinen wegen Moskaus exorbitanter militärischer Verluste in der Ukraine in den Hintergrund geraten zu sein. Moskaus "großserbische" Verbündete hatten sich den Verlauf von Wladimir Putins "militärischer Spezialoperation" anders vorgestellt. Trotzdem sollte niemand der Illusion verfallen, Dodik hätte seine Sezessionspläne auf Eis gelegt. Nach seinem Treffen mit Putin in St. Petersburg im Junisagte Dodik, er "bete zu Gott, dass Donald Trump in Amerika wieder an die Macht kommt". Die Serben müssten nun "geduldig sein" und "auf angemessene globale Umstände warten", um ihr Ziel der Unabhängigkeit von Bosnien zu erreichen.

Russlands Freunde

Dodik, der Putin bereits über ein Dutzend Mal getroffen hat, betonte, dieser hätte ihm versichert, dass Russland seine Freunde niemals allein lassen werde. Das hatte Putins Botschafter in Bosnien, Igor Kalabuhov, schon mehrmals bewiesen, als er kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im bosnischen Fernsehsender FTV warnte, dass Bosniens Nato-Ambitionen Konsequenzen haben könnten. Sollte sich Sarajevo zu sehr der Nato nähern, stünde Moskau bereit. Zum 30. Gründungstag der RS am 9. Jänner in Banja Luka stand Putins Botschafter als Ehrengast neben Dodik auf der Tribüne. Serbiens Ministerpräsidentin Ana Brnabić und ihr Innenminister nahmen ebenfalls an dieser verfassungswidrigen Veranstaltung teil. Sogar der vom Haager Kriegsverbrechertribunal wegen Beteiligung am Srebrenica-Völkermord verurteilte Vinko Pandurević hatte einen Platz direkt hinter Dodik bekommen.

Moskau ist vor Jahren in das von Washington und Brüssel hinterlassene Vakuum auf dem Balkan gestoßen und rüstet die RS-Paramilitärs, an den gemeinsamen Landesstreitkräften vorbei, seit 2018 militärisch aus.

Enge Bande

Dodiks Verhalten wird radikaler und erratischer: Den deutschen SPD-Abgeordneten Adis Ahmetovic beschimpfte er als "Hitlerjungen" und rief auf einer Wahlkampfveranstaltung: "Es lebe Serbien, es lebe Russland, es lebe die Republika Srpska!" Auf der Parade zum 9. Mai in Banja Luka, an der auch Mitglieder von Putins Motorradgang "Nachtwölfe" teilnahmen, trug er das russische St.-Georgs-Band, ein Unterstützungssymbol für Putins Ukraine-Feldzug.

Im südserbischen Niš feierte man vor kurzem das zehnjährige Bestehen des russisch-serbischen "Katastrophenschutzzentrums", das Moskau für Geheimoperationen auf dem Balkan dient und auf Initiative des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu ins Leben gerufen wurde. Die von Vučić gleichgeschalteten Medien übernehmen die Kreml-Propaganda und verbreiten, dass die Ukraine Russland am 24. Februar angegriffen hätte, nicht umgekehrt. Dies überrascht nicht, denn Vučić war Miloševićs Propagandaminister, der 1995 öffentlich sagte, dass für jeden getöteten Serben 100 Bosniaken hingerichtet werden sollten. Belgrad und Banja Luka sind de facto zu Außenposten Moskaus geworden.

Serbische Achillesferse

Hat es unter diesen Umständen Sinn, die EU-Beitrittsverhandlungen mit Belgrad fortzuführen? Die wichtigste Entscheidung der EU, um die großserbischen Pläne doch noch zu durchkreuzen, steht noch aus: Würde Brüssel die bisher nur 1100 leicht bewaffnete Soldaten zählende EU-Friedenstruppe Eufor signifikant aufstocken, mit Panzern ausstatten und teilweise in den Brčko-Distrikt verlegen, wäre der großserbische Traum ausgeträumt. Brčko teilt die RS in einen Ost- und Westteil und ist somit die serbische Achillesferse. (Alexander Rhotert, 12.7.2022)