Soziale Gerechtigkeit ist keine biologische Frage, sagen die Biologin Mihaela Pavlicev von der Universität Wien und der Yale-Biologe Günter Wagner im Gastkommentar. Lesen Sie zu dieser Debatte auch das Streitgespräch Streitgespräch zwischen Grünen-Politikerin Faika El-Nagashi und Katta Spiel von der TU Wien sowie den Gastkommentar von Conny Felice, Paul Haller und Anton Cornelia Wittmann von der HOSI Salzburg: "Keine Angst vor Selbstbestimmung".

Pride Anfang Juli in London fordert Trans-Rechte.
Foto: Imago Images / WIktor Szymanowicz

Da sich in letzter Zeit die Diskussionen über das biologische Geschlecht und seine Beziehung zum "Gender" (Geschlechtsidentität) häufen, fühlen wir uns herausgefordert, einige der verwendeten biologischen Argumente anzusprechen, die wir für irreführend halten, obwohl manche von angesehenen Kolleginnen stammen. Dazu gehört die oft zitierte Biowissenschafterin Anne Fausto-Sterling, die eine sehr starre Vorstellung davon hat, wie Geschlecht in der Biologie konzeptualisiert wird.

Funktionelle Einheiten

In der Biologie bezeichnet Geschlecht jene körperlichen Unterschiede zwischen Individuen, die im Dienst der sexuellen Fortpflanzung stehen. Am grundlegendsten ist die Fähigkeit, eine von nur zwei Typen von Geschlechtszellen (Gameten) zu produzieren, nämlich entweder Eizellen oder Spermien. Nur eine Kombination dieser verschiedenen Gameten kann ein neues Individuum erzeugen. Es gibt kein Kontinuum der Zellen zwischen Spermien und Eizellen, die eine reproduktive Funktion erfüllen könnten. Somit sind Geschlechter artenübergreifend als funktionelle Einheiten verstanden und nicht "definiert" als eine Kombination spezifischer körperlicher Merkmale, wie oft argumentiert wird.

Neben Gameten gibt es weitere Merkmale, die zur Unterstützung der Fortpflanzungsfunktionen entstanden sind, wie der Fortpflanzungstrakt, oder andere, nicht direkt an der Fortpflanzung beteiligte Merkmale wie die Körpergröße. Einige davon sind grundlegender und weniger variabel und bilden bei den meisten Arten strikt binäre Unterschiede, wie zwischen Hoden und Eierstöcken. Andere sind oberflächlicher und können sich zwischen den Geschlechtern stark überschneiden (etwa die Körpergröße). Letztere sind formbar und nicht starr an ein bestimmtes Geschlecht gebunden, wie Feministinnen in den letzten Jahrzehnten erfolgreich argumentiert haben. Woher kommt also die Verwirrung?

Irreführende Debatte

Wir sehen vier Quellen der Verwirrung: die Vermischung von Gender und Geschlecht, die Konzentration auf sekundäre Geschlechtsmerkmale, irrelevante Vergleiche zwischen Mensch und Tier und die Verwechslung seltener Varianten mit zusätzlichen "Geschlechtern".

Das Konzept "Gender" wurde eingeführt, um Verwechslungen zwischen verschiedenen Formen sexueller und sozialer Identitäten, Wünschen und Verhaltensweisen einerseits und dem biologischen Geschlecht andererseits zu beseitigen. Die Tendenz, Gender und Geschlecht wieder zu vermischen, schadet der Debatte. Wenn man mit dem breiten Spektrum an Geschlechtsidentitäten konfrontiert wird, wird sehr oft von Geschlecht gesprochen. Gender und Geschlecht wird auch bei Fausto-Sterling in einzelnen Sätzen vermischt, was den Eindruck erweckt, dass die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten ein nichtbinäres biologisches Geschlecht impliziert, was nicht der Fall ist. Geschlecht ist eine dichotome biologische, funktionelle Kategorie, die beim Menschen genetisch fest verdrahtet ist, nicht so die Geschlechtsidentität.

Die zweite Quelle der Verwirrung entsteht dadurch, dass nicht klar zwischen der Variabilität der sekundären Geschlechtsmerkmale und dem Geschlecht als funktionelle Kategorie unterschieden wird. Während ein Kontinuum in Körpergröße besteht, kann es entwicklungsbiologisch keines zwischen weiblichem und männlichem Reproduktionstrakt geben, da diese Strukturen sich aus alternativen embryonalen Körperteilen entwickeln. Erstere sind also variabel und überschneiden sich weitgehend zwischen Geschlechtern, Letztere bleiben binär.

Schließlich verweisen jene, die das nichtbinäre Geschlecht befürworten, oft auf Arten mit einer anderen Sexualbiologie als Menschen, wie beispielsweise Fische. Tatsächlich können 500 Fischarten ihr Geschlecht im Laufe des Lebens ändern (allerdings nur zwischen zwei Geschlechtern). Das ist ein faszinierendes Phänomen, aber für den Menschen irrelevant.

Viele Variationen

Wie in der Evolutionsbiologie und Genetik anerkannt, kann jedes biologische System, das eine ordnungsgemäße Funktion erfüllt, durch Schwankungen beeinträchtigt werden, entweder aufgrund von Alterung, genetischen Mutationen oder Umwelteinflüssen. Eine Frau nach der Menopause ist noch immer eine Frau, auch wenn sie die weibliche Fortpflanzungsfunktion nicht mehr erfüllen kann. Variation "verwischt" nicht die Grenzen zwischen funktionellen Kategorien. Tatsächlich sind die Abweichungen in der sexuellen Entwicklung selten und können nicht als Argument gegen die binäre Geschlechtsauffassung dienen.

Einige Zahlen veranschaulichen diesen Punkt. Die Häufigkeit unter der Neugeborenen von einzelnen Abweichungen ist: genitale Mehrdeutigkeit 0,02 bis 0,05 Prozent; anatomische Frauen mit männlichem Chromosomensatz (XY) 0,006 Prozent, das Fehlen der Gebärmutter 0,025 Prozent, die vergrößerte Klitoris 0,007 bis 0,02 Prozent, die Koexistenz beider inneren Genitalstrukturen – weniger als 300 bekannte Fälle. In Gegensatz dazu treten Down-Syndrom und Vorhofseptum-Herzfehler zehn- bis 100-fach häufiger auf. Genetische Variationen, die zu größeren Abweichungen vom funktionierenden Sexualapparat führen, sind selten. Da sie nicht durch natürliche Auslese entstanden sind, um eine Fortpflanzungsfunktion zu erfüllen, sind sie kein zusätzliches biologisches Geschlecht.

"Soziale Gerechtigkeit ist keine biologische Frage."

Wohin führt all dies bei den aktuellen Diskussionen über die Rechte von Transgender- und intersexuellen Menschen? Soziale Gerechtigkeit ist keine biologische Frage, sondern eine Suche nach Wegen, wie die Würde und die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden können. Dies wird nicht durch die Leugnung der Geschlechtsunterschiede erreicht. Der Versuch, biologische Kategorien zu verwischen, lenkt nur von der eigentlichen Aufgabe ab, Lösungen dort zu suchen, wo sie tatsächlich zu finden sind – in der gesellschaftlichen Wertschätzung menschlicher Vielfalt. (Mihaela Pavlicev, Günter Wagner, 25.7.2022)