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Verfassungsjurist Heinz Mayer schreibt in seinem Gastkommentar über den Fall Tina und darüber, wie die ÖVP damit umgeht.

Sie besetzen zentrale Spitzenpositionen der Republik: Wolfgang Sobotka (Nationalratspräsident), Karl Nehammer (Bundeskanzler und vormaliger Innenminister), Gerhard Karner (derzeitiger Innenminister), Klaudia Tanner (Bundesministerin für Landesverteidigung), Rudolf Striedinger (designierter Generalstabchef), Omar Haijawi-Pirchner (Direktor der Direktion für Staatssicherheit und Nachrichtendienst), Michael Takacs (Leiter der Bundespolizeidirektion) und Andreas Hanger (Abgeordneter, Chefaufdecker von angeblichen roten Netzwerken in staatlichen Institutionen). Sie eint ihre große Nähe zur ÖVP Niederösterreich; einige von ihnen treten regelmäßig als Produzenten von Schlagzeilen hervor, auf die wir gerne verzichten könnten.

Sein ORF-Interview sorgt immer noch für Irritation und Ärger: Innenminister Gerhard Karner (ÖVP).
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Der frühere (Nehammer) und der gegenwärtige (Karner) Innenminister traten und treten mit solchen Schlagzeilen im Fall "Tina" in die Öffentlichkeit. Zur Erinnerung: Am 28. Jänner 2021 wurde die damals zwölfjährige, in Österreich geborene und gut integrierte Tina samt Schwester und Mutter nach Georgien abgeschoben. Diese Abschiebung erfolgte in der Nacht und wirbelte medialen Staub auf: Das Fernsehen lieferte Bilder von maskierten Wega-Beamten samt Hunden frei Haus. Der damalige Innenminister Nehammer trat vor die Kamera und erklärte, er vollziehe ausschließlich Entscheidungen von Höchstgerichten, wozu er verpflichtet sei, weil er sonst Amtsmissbrauch begehen würde.

Falsche Behauptungen

Alle diese Behauptungen sind falsch: Er vollzog eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, das kein Höchstgericht, sondern eines von elf Verwaltungsgerichten erster Instanz ist. Er war darüber hinaus nicht zur Abschiebung verpflichtet, sondern er hatte Ermessen. Dabei hätte er abzuwägen gehabt, ob das öffentliche Interesse an der Abschiebung der genannten Personen wichtiger ist als entgegenstehende Interessen; als solche wären insbesondere das Kindeswohl und das Recht auf Familienleben zu prüfen gewesen. Diese Prüfungen waren laut Bundesverwaltungsgericht nicht dokumentiert; dessen ungeachtet erklärte später ein Mitarbeiter des Ministeriums öffentlich das Gegenteil.

Tina konnte nach der Abschiebung ihrer Familie wieder zurück nach Österreich. Seit Dezember 2021 lebt sie mit einem Schülervisum in Wien.
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Wir halten also fest: Der damalige Innenminister und heutige Bundeskanzler wusste nicht, dass das Bundesverwaltungsgericht kein Höchstgericht ist, er scheint auch nicht gewusst zu haben, dass er nicht verpflichtet war, diese Abschiebung zu veranlassen, sondern dass er Ermessen gehabt hätte. Nehammer musste sich vom Anwalt der betroffenen Familie vorwerfen lassen, die gesetzlichen Voraussetzungen und das Verfahren falsch dargestellt zu haben.

Der damalige Innenminister der Republik Österreich hat sich dagegen nicht zur Wehr gesetzt – er wird seine Gründe dafür gehabt haben. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) – dieser ist neben dem Verfassungsgerichtshof und dem Obersten Gerichtshof tatsächlich eines von drei Höchstgerichten – hat in einem Beschluss vom 26. Juli 2022 ausgesprochen, dass die Abschiebung der Familie rechtswidrig war; er hatte sich nicht mit der Frage zu befassen, ob die Verweigerung von Asyl rechtswidrig war. Der VwGH hat auch festgehalten, dass Nehammer Ermessen gehabt hätte; der damalige Innenminister hat damals also auch öffentlich Unwahrheiten behauptet.

Falsche Erwartung

Die zitierte Entscheidung des VwGH brachte Tina erneut mit einem österreichischen Innenminister in Kontakt: Mittlerweile ist Gerhard Karner im Amt, er war am 23. August 2022 bei Armin Wolf in der ZiB 2 – dieses Interview hat es in sich. Wer erwartet hatte, dass der nunmehrige Innenminister zugesteht, dass seinem Vorgänger eine Rechtswidrigkeit unterlaufen ist, wurde enttäuscht. Dieses Interview irritiert gewaltig: Innenminister Karner weigert sich hartnäckig zu erkennen, dass es bei dieser zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes nicht um das Asylrecht als solches, sondern lediglich um die Abschiebung geht. Er weigert sich – trotz intensiver Interventionen des Moderators –, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Entscheidung über das Asylrecht eine, die über die Zulässigkeit einer Abschiebung eine andere Sache ist. Es kann also Situationen geben, in denen kein Asyl gewährt werden kann, eine Abschiebung aber trotzdem nicht möglich ist, zum Beispiel wenn – wie hier – das Kindeswohl dagegenspricht.

Riesiges Desaster

Fragt man sich, wie ein Innenminister der Republik Österreich einen derartigen Auftritt liefern kann, so bieten sich aus meiner Sicht drei Antworten an: Er weiß nicht, wovon er redet, er ist in einen derartigen Stress geraten, dass er nicht mehr in der Lage ist, auf gestellte Fragen sinnvolle Antworten zu geben, oder er lügt die Zuseher an. Ich habe mir das Interview nochmals angesehen und kann nicht beurteilen, welche Antwort die richtige wäre. Einerlei; verstörend ist ein derartiger Auftritt eines Innenministers jedenfalls. Man sollte sich doch erwarten können, dass ein Innenminister der Republik Österreich, Inhaber eines der höchsten Staatsämter, in der Lage ist, die Entscheidung eines Höchstgerichtes zu akzeptieren und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Nichts von alldem war zu spüren.

Was kommt als Nächstes? Wird nun Chefaufdecker Andreas Hanger wieder auf die Suche nach roten Netzwerken – diesmal beim VwGH – ausrücken? Wir werden es bald wissen. Alle politischen Parteien sollten dieses ZiB 2-Interview mit Gerhard Karner in ihr Ausbildungsprogramm für ihren politischen Nachwuchs aufnehmen; als Beispiel dafür, wie man sich auf der Flucht vor der Wahrheit unverdrossen in ein riesiges Desaster manövriert. Die Lehre daraus sollte sein: Gehst du in die ZiB 2, verdreh die Wahrheit nicht! (Heinz Mayer, 26.8.2022)