Bildungsexperte Ferdinand Eder schreibt in seinem Gastkommentar, dass der "außergewöhnlich starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsergebnisse und Bildungslaufbahnen nicht daraus resultiert", dass die Schule hierzulande eine Halbtagsschule ist.

Ilkim Erdost, Bereichsleiterin Bildung in der Arbeiterkammer Wien, listet in ihrem Gastkommentar zu einem Beitrag des Sozial- und Wirtschaftswissenschafters Paul Reinbacher vieles zutreffend auf, was das österreichische Schulsystem nicht leistet, und diagnostiziert dafür die "Halbtagsschule" als Ursache. Als ob das "Weh und Ach" der Schule "aus einem Punkte zu kurieren" wäre.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Getty Images

Die im Beitrag angesprochenen großen Leistungsunterschiede in den Bildungsstandards zwischen Volksschülerinnen und Volksschülern aus Akademikerfamilien und jenen aus Familien mit maximal Pflichtschulabschluss, um nur auf ein Thema einzugehen, können wohl nicht generell dem Faktor Halbtagsschule zugeschrieben werden: Im ganztagsschulreichen Wien sind diese Unterschiede um ein Drittel höher als im ganztagsschularmen Kärnten.

Auslese statt Förderung

Der in Österreich außergewöhnlich starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsergebnisse und Bildungslaufbahnen resultiert ja nicht daraus, dass die Schule eine Halbtagsschule ist, sondern aus einer Tradition des Denkens über Lernen und Leistung, die nicht auf Förderung, sondern auf Auslese ausgerichtet ist. Bereits in der Volksschule wird getrennt zwischen Kindern, denen man eine "höhere" Bildung zutraut, und solchen, die lediglich eine "mittlere" erhalten sollen – mit dem Ergebnis, dass sich in der ersten Gruppe die Kinder aus Familien mit höherer Bildung und in der zweiten jene mit niedriger Bildung wiederfinden.

In der anschließenden AHS-Unterstufe haben fast 80 Prozent der Eltern zumindest Matura, in den Mittelschulen sind es rund 40 Prozent, und an manchen Mittelschulstandorten geht diese Quote gegen null. Die Zusammensetzung von Schulklassen mit überwiegend sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern ist ein entscheidender Faktor dafür, dass an manchen Einrichtungen ein Bildungs- und Lernmilieu entsteht, in dem sich die Kinder und Jugendlichen wechselseitig am Lernen hindern und Lehrpersonen in ihrem Bemühen um Förderung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler resignieren.

"Nicht der Halbtagscharakter, sondern die Struktur des Schulsystems ist – ungeachtet anderer Einflüsse – der entscheidende Faktor, dass Lernerfolge ausbleiben und Förderung nicht ausreichend geschieht."

Die 2018 ermöglichte Aufteilung der Mittelschulschülerinnen und -schüler nach zwei Gütestandards ("Standard" und "Standard AHS") bildet den vorläufig letzten Schritt in dieser Tradition der Auslese, die so weit führt, dass sogar positive Noten, die Schülerinnen und Schüler in der Leistungsgruppe "Standard" erreichen, schulrechtlich einem "Nicht genügend" gleichgestellt werden. Nicht der Halbtagscharakter, sondern die Struktur des Schulsystems ist – ungeachtet anderer Einflüsse – der entscheidende Faktor, dass Lernerfolge ausbleiben und Förderung nicht ausreichend geschieht.

Das Heilmittel?

Erdost sieht in Ganztagsschulen das Heilmittel für fast alle Mängel des Schulsystems. Aber: Die Annahme, more of the same, also die Ausweitung der Schulzeit in Form einer gut organisierten Ganztagsschule, wäre hier schon die Lösung, ignoriert die wissenschaftliche Befundlage. Nicht nur "ambivalente" Befunde, wie Reinbacher schreibt, nein: klare Befunde widersprechen dieser Annahme. Im Einklang mit bisherigen Forschungsergebnissen resümieren die Autorinnen und Autoren einer neuen Untersuchung in Deutschland: "Es findet sich kein signifikanter Effekt des Ganztagsschulbesuchs auf Lernleistungen, wenn man die Standardisierten Tests betrachtet. Aber in Deutsch und Mathematik verbessert sich die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte, die Noten verbessern sich." Die Studie beruht auf einer Längsschnittanalyse mit 5.000 Schülerinnen und Schülern, deren Entwicklung seit 2012 begleitet wurde. Und auf die Frage nach der Verringerung der gesellschaftlichen Ungleichheit lautet der Befund: "Die sehen wir nicht in den Daten!" Dahinter stehen immerhin fast 20 Jahre Ganztagsschulentwicklung in Deutschland, in der redlich versucht wurde, Modelle und Praktiken für eine ganztägige Beschulung zu entwickeln.

Entlastung der Familien

Die ganztägige Schule leistet einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen, insbesondere eine Unterstützung der Frauen bei der Bewältigung ihrer beruflichen und familiären Herausforderungen, eine Entlastung der Familien vom nervigen täglichen schulischen Kleinkram wie Aufgabenbetreuung. Und sie bietet andererseits den Kindern und Jugendlichen Raum für die Entwicklung ihrer sozialen Beziehungen. Das reicht als Rechtfertigung aus, Schule anders zu organisieren – sie ist ja dazu da, gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, auch die "Aufbewahrung" und Betreuung von Kindern während der Berufstätigkeit ihrer Eltern. Das sollte auch den finanziellen Aufwand wert sein.

Der Ganztagsschule aber signifikante Effekte zur Lösung pädagogischer oder bildungspolitischer Herausforderungen zuzuschreiben, dafür fehlt zurzeit jegliche Evidenz. Und jene Länder, die als Beleg für das pädagogische Potenzial von Ganztagsschulen herangezogen werden, haben so gut wie alle im Pflichtschulbereich Gesamtschulen, also gemeinsame Schulen auch für die Zehn- bis 14-Jährigen, eingeführt und auf diese Weise einen entscheidenden Schritt zur Verringerung sozialer Ungleichheit in der Schule und damit zur Verbesserung der Lebenschancen ihrer Kinder und Jugendlichen gesetzt. "Aus der Zeit gefallen", wie Erdost schreibt, ist nicht unmittelbar die Halbtagsschule, sondern das "differenzierte" zweigliedrige Schulsystem, das allein durch seine Struktur und die daraus resultierende Abwertung der Leistungsschwächeren Jahr für Jahr Bildungsverliererinnen und Bildungsverlierer erzeugt.

Wer sich als Lobby für Kinder und Jugendliche und weniger als Interessenvertretung verstehen möchte, fände in der Umsetzung einer gemeinsamen Schule für alle ein bei weitem wirkungsvolleres Handlungsfeld. (Ferdinand Eder, 26.1.2023)