Hellmut Butterweck, früherer Wissenschaftsredakteur und Theaterkritiker, geht in seinem Gastkommentar der Frage nach, ob und wie der Nürnberger Prozess ein Modell für die juristische Verfolgung von Wladimir Putin sein kann.

Die Ukraine fordert, Wladimir Putins Angriffskrieg einmal vor einem Sondertribunal aufzuarbeiten. Unterstützung kommt dafür von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock.
Foto: Imago / Alexei Danichev

Der Nürnberger Prozess steht plötzlich wieder hoch im Kurs. Diesmal als Modell dafür, was mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geschehen soll, falls man seiner habhaft wird. Es geht dabei vor allem um zwei Delikte: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen den Frieden (Angriffskrieg). Für Ersteres kann er bestens dienen, hier ist er der große historische Beispielsfall. Als Vorbild für ein Verfahren wegen Verbrechen gegen den Frieden eignet er sich nur bedingt.

Stalin schwebte für die deutschen Anführer ein Schauprozess mit feststehenden Todesurteilen für alle Angeklagten vor. Die Briten wollten einige zuvor namhaft gemachte "Haupträdelsführer" einfach an die Wand stellen und hätten fast auch die USA auf ihre Seite gebracht. Präsident Franklin D. Roosevelt neigte zunächst zu dieser "Lösung", rückte aber wieder davon ab. Nach seinem Tod am 12. April 1945 wurde mit Harry S. Truman ein kategorischer Gegner der formlosen Erschießung US-Präsident.

Prozess zur Ächtung des Angriffskrieges

Die Briten hielten noch immer daran fest, die Weltmeinung habe die Schuldigen ohnehin bereits verurteilt, mussten aber nachgeben, zum Glück für Recht und Rechtsgefühl. Präsident Truman ernannte Robert Jackson, einen Richter am Supreme Court, der sich in einem Vortrag für ein faires Verfahren ausgesprochen hatte, zum Hauptankläger der USA und ließ ihm auch bei der Vorbereitung des Prozesses freie Hand. Jackson, einer der letzten bedeutenden amerikanischen Juristen ohne akademische Ausbildung, verdankte seinen Aufstieg seiner Rednergabe, seinem Rechtsgefühl und seiner Durchsetzungskraft.

"Eine Analyse der Urteile ergibt, dass für das Ausmaß der Strafen ausschließlich die Schuldsprüche wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausschlaggebend waren."

Es war seine Idee, den Prozess zur Ächtung des Angriffskrieges zu benützen und zum Präjudiz für dessen Strafbarkeit zu machen. Mit seiner Unbedingtheit und dem politischen Gewicht der USA brachte er in der vorbereitenden Londoner Konferenz die Verbündeten auf seine Linie. Seine Drohung, wenn die Konferenz platze, könne jede der vier Nationen die "Hauptkriegsverbrecher", die sie in der Hand hätten, in Eigenregie aburteilen, hatte Gewicht: Der zweite Mann hinter Hitler, Hermann Göring, sowie die meisten und wichtigsten anderen späteren Angeklagten waren in amerikanischer Haft.

Griff "nach den Sternen"

Doch der Angriffskrieg war kein strafbares Delikt gewesen, als Hitler ein Land nach dem anderen überfiel, und weder die Briten noch die Franzosen und Russen hatten mit diesen Anklagen Freude. Sie überließen sie völlig den Amerikanern. Jackson hielt seine brillante Anklagerede, und da er als Erster der vier Hauptankläger vortrug, wurde sie als programmatische Eröffnungsansprache wahrgenommen. Die Sätze, dieser Prozess sei ein Griff "nach den Sternen eines neuen Völkerrechts" und die Nürnberger Grundsätze würden in Zukunft "den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen", waren zwar eine Minderheitsmeinung, prägten aber die Erinnerung an den Nürnberger Prozess auf die von Jackson gewünschte Weise.

Die Richter folgten unter der souveränen Verhandlungsführung des britischen Lordrichters Geoffrey Lawrence entsprechend der angelsächsischen Verfahrensordnung der Beweisführung der Ankläger, dann der Verteidiger, den Aussagen der von jeder Seite aufgebotenen Zeugen und stellten fallweise Fragen. 216 Verhandlungstage lang deutete nichts darauf hin, worauf es ihnen am Ende ankommen würde, den Angriffskrieg oder die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also die in jedem Rechtsstaat strafbaren Delikte wie Mord, Teilnahme an Mord, Verantwortung für Mordbefehle, Anstiftung zum Mord. Dass sie am Ende etwas völlig anderes als das von Jackson Geplante aus diesem Prozess gemacht hatten, ließen erst die am 1. Oktober 1946 verkündeten Strafen erkennen. Von den 21 Männern auf der Anklagebank wurden elf zum Tode, sieben zu Freiheitsstrafen verurteilt und drei freigesprochen.

Mordbefehle und Mordgesetze

Eine Analyse der Urteile ergibt, dass für das Ausmaß der Strafen ausschließlich die Schuldsprüche wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausschlaggebend waren. Dies ist nicht ohne weiteres zu erkennen, weil in einer Reihe von Fällen auch Schuldsprüche wegen Verbrechen gegen den Frieden erfolgten, die sich aber nicht in den Strafen niederschlugen. Alle zum Tod Verurteilten hatten Blut an den Händen oder an der Feder, mit der sie Mordbefehle und Mordgesetze unterschrieben hatten. Wie die Richter die Verbrechen gegen den Frieden und die Mordtaten gewichteten, geht aus den Freiheitsstrafen hervor: Sie entsprachen mit einer Ausnahme so genau der Schuld am Tod von Menschen, dass in jenen Fällen, in denen auch ein Schuldspruch wegen Verbrechen gegen den Frieden vorlag, eine Verschärfung wegen dieser Delikte darin einfach nicht unterzubringen ist.

Die einzige Ausnahme war der von Morddelikten freigesprochene und wegen Verbrechen gegen den Frieden zu lebenslanger Haft verurteilte Rudolf Heß, der eigenmächtig nach Schottland geflogen war, um die Briten zu einem Separatfrieden zu bewegen, der Hitler freie Hand im Osten verschafft hätte. Dieses Urteil war, zumindest dem Ausmaß der Strafe nach, das einzige Fehlurteil zulasten eines Angeklagten.

Klassisches Strafrecht

Die Richter holten Jacksons "Sterne eines neuen Völkerrechts" auf den sicheren Boden des klassischen Strafrechts herunter: Mord bleibt Mord und wurde adäquat bestraft. Wie dieses Wunder zustande kam, ist ein eigenes faszinierendes Kapitel. Als juristisches Vorbild für die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden taugt der Nürnberger Prozess also nicht. Der Fortschritt, durch den gerade diese Anklagen trotzdem zukunftswirksam wurden, spielte sich in den Köpfen ab. Dort haben sie mehr bewirkt als auf dem Papier, auf dem geschrieben steht, was sein darf und was nicht: das Bewusstsein, dass es ein Verbrechen ist, einen Krieg vom Zaun zu brechen. (Hellmut Butterweck, 10.2.2023)