Er warnt vor einem Überschreiten der Klimakipppunkte und wirft Schlaglichter auf Indien, die Türkei und Brasilien: George Soros, der Gründer der Open Society Foundations. Im Folgenden Auszüge aus seiner Rede vor dem Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz.

George Soros: "Trump wollte wie Putin sein."
Foto: AFP / Fabrice Coffrini
Zum Klimawandel

Lassen Sie mich mit einer kühnen Aussage beginnen: Während zwei politische Regierungsformen um die Vorherrschaft in der Welt kämpfen, droht unsere Zivilisation wegen des unaufhaltsam fortschreitenden Klimawandels zu kollabieren. Das ist eine sehr verkürzende Aussage, aber ich glaube, dass sie den aktuellen Stand der Dinge treffend wiedergibt. (…)

Das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds würde die Meere um sieben Meter ansteigen lassen. Das stellt eine Bedrohung für das Überleben unserer Zivilisation dar.

Die Botschaft ist klar: Menschliche Beeinflussungen haben ein zuvor stabiles System zerstört, und es bedarf menschlichen Erfindergeistes, sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene, um es wieder in Ordnung zu bringen. Gegenwärtig sind praktisch alle Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels auf Schadensbegrenzung und Anpassung ausgerichtet. Sie sind notwendig, aber nicht ausreichend. (...)

Exponentieller Anstieg

Wir stehen gefährlich kurz davor, die 2015 im Pariser Abkommen festgelegte Begrenzung auf 1,5 Grad zu überschreiten. Wir haben bereits 1,2 Grad erreicht, und wenn wir unseren derzeitigen Kurs beibehalten, wird die globale Erwärmung um 2070 mehr als 2,5 Grad erreichen. Damit würden wir mehrere Kipppunkte überschreiten, etwa das Schmelzen des arktischen Permafrosts. Sobald es dazu kommt, steigt der Geldbetrag, der zur Stabilisierung oder Reparatur des Klimasystems benötigt wird, exponentiell an. (...)

"Wenn wir unseren Umgang mit dem Klimawandel nicht ändern, wird unsere Zivilisation gründlich aus den Fugen geraten."

Die Beschleunigung des Klimawandels wird darüber hinaus große Migrationsströme in Gang setzen, auf die die Welt kaum vorbereitet ist. Wenn wir unseren Umgang mit dem Klimawandel nicht ändern, wird unsere Zivilisation durch steigende Temperaturen, die weite Teile der Welt praktisch unbewohnbar machen werden, gründlich aus den Fugen geraten. Wir müssen unsere Finanzinstitutionen, vor allem die Weltbank, neu ausrichten, um auf den Klimawandel fokussiert zu reagieren.

Zur Geopolitik

Es gibt zwei Regierungsmodelle, die um die globale Vorherrschaft kämpfen. Ich spreche von offenen und geschlossenen Gesellschaften. In einer offenen Gesellschaft besteht die Aufgabe des Staates darin, die Freiheit des Einzelnen zu schützen; in einer geschlossenen Gesellschaft besteht die Aufgabe des Einzelnen darin, den Interessen des Staates zu dienen. Als Gründer der Open Society Foundations liegen mir offene Gesellschaften natürlich am Herzen, und ich halte sie den geschlossenen Gesellschaften für moralisch überlegen. Beim Thema moralische Überlegenheit stoßen wir auf eine Schwierigkeit: Beide Systeme halten sich für überlegen. Offene Gesellschaften müssen sich also dadurch auszeichnen, dass sie die Freiheit des Einzelnen tatsächlich schützen. Das würde in geschlossenen Gesellschaften lebende Menschen sicherlich aufhorchen lassen. (…)

Beiden Seiten zugewandt

Dies lässt viele Länder außen vor, die mit großer Anstrengung vermieden haben, sich unwiderruflich an die eine oder andere Seite zu binden. Indien ist einer dieser interessanten Fälle. Das Land ist eine Demokratie, aber sein Führer Narendra Modi ist kein Demokrat.

Modi unterhält enge Beziehungen sowohl zu offenen als auch zu geschlossenen Gesellschaften. Indien ist Mitglied der "Quad-Gruppe" (zu der auch Australien, die Vereinigten Staaten und Japan zählen), kauft allerdings viel russisches Öl mit hohen Preisnachlässen und verdient damit viel Geld.

Die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan ist vielleicht noch interessanter. Erdoğan unterhält aktive Beziehungen zu beiden Seiten im Ukraine-Krieg und hat sich als neutraler Vermittler zwischen den beiden Seiten etabliert. Erdoğan und Modi haben eine Menge gemeinsam. Doch während Modi bis vor kurzem fest im Sattel zu sitzen schien, hat Erdoğan die türkische Wirtschaft nicht gut gesteuert – und im Mai stehen Wahlen an. Alle seine Bemühungen sind darauf ausgerichtet, die Wahlen zu gewinnen.

"Innenpolitisch ist er noch autokratischer geworden."

Er hat sich Wladimir Putin angenähert, der die Türkei zu einem Umschlagplatz für russisches Öl machen will, was Erdoğan das Geld für die Wahl verschaffen wird. Innenpolitisch ist er noch autokratischer geworden. Er versucht, seinen mächtigsten Gegner, den Bürgermeister von Istanbul, ins Gefängnis zu bringen und der kurdischen Partei die Teilnahme an den Wahlen zu verbieten. Es wird ihm allerdings nicht gelingen, die Tradition zu brechen, die es den politischen Parteien erlaubt, die Auszählung der Stimmen zu überwachen. Daher wird es schwierig sein, die Ergebnisse zu verifizieren oder zu falsifizieren.

Das Erdbeben der Stärke 7,8, das die Türkei Anfang des Monats erschütterte, ist eine Tragödie. In vielen betroffenen Gebieten schlägt der Schock in Wut um, da die Regierung nur langsam reagiert und alle Hilfsmaßnahmen kontrollieren will. Das war keine Fügung des Schicksals; vielmehr haben die nachlässigen Baupraktiken der Türkei und Erdoğans bauwirtschaftliches Wachstumsmodell alles noch schlimmer gemacht. Der beste Weg, diese Probleme aus dem Weg zu räumen, ist die Durchführung von Wahlen. (…)

"Ich erwarte eine demokratische Revitalisierung in Indien."

Möglicherweise bin ich naiv, aber ich erwarte eine demokratische Revitalisierung in Indien. Es gibt viele andere regionale Mächte, die den Lauf der Geschichte beeinflussen können. Brasilien ist hier besonders zu nennen. Die Wahl von Lula da Silva Ende letzten Jahres war ein entscheidender Schritt. Am 8. Jänner gab es einen Putschversuch, ähnlich wie am 6. Jänner 2021 in den Vereinigten Staaten. Lula hat ihn souverän bewältigt und seine Autorität als Präsident gestärkt.

Brasilien an vorderster Front

Brasilien steht an vorderster Front beim Konflikt zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften; es steht zudem an vorderster Front im Kampf gegen den Klimawandel. Er muss den Regenwald schützen, soziale Gerechtigkeit fördern und gleichzeitig auch noch das Wirtschaftswachstum wieder ankurbeln. Er wird große internationale Unterstützung brauchen, denn wenn er scheitert, gibt es keinen Weg zu Netto-Null-Emissionen.

"Ein dritter Weltkrieg ist um jeden Preis zu vermeiden."

Die derzeitige Situation hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Kalten Krieg, doch die Unterschiede sind weitaus größer. In der Ukraine herrscht ein echter Krieg, und der hat alles verändert. (…)

Am 22. Dezember flog der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Washington, um mit Präsident Joe Biden über die Lage zu diskutieren. Sie waren sich einig, dass der einzige Weg, den Krieg zu beenden, darin besteht, ihn zu gewinnen. Doch Biden machte Selenskyj darauf aufmerksam, dass seine Einsatzbereitschaft Grenzen habe. Ein dritter Weltkrieg ist um jeden Preis zu vermeiden, und die Unterstützung Europas für die Ukraine muss erhalten bleiben. (...)

Unabhängigkeit behaupten

Die Länder der ehemaligen Sowjetunion können es kaum erwarten, dass die Russen in der Ukraine besiegt werden, denn sie wollen ihre Unabhängigkeit behaupten. Das heißt, ein Sieg der Ukraine hätte die Auflösung des russischen Imperiums zur Folge. Es würde nicht länger eine Bedrohung für Europa und die Welt darstellen. Das wäre eine große Veränderung zum Besseren. Für offene Gesellschaften brächte es eine enorme Entspannung, für geschlossene Gesellschaften würde es wiederum gewaltige Probleme schaffen.

Schauen wir nach China: Xi Jinping wäre ein klarer Verlierer. Seine enge Verbindung zu Putin träfe ihn hart. Aber möglicherweise befindet sich China bereits in einer revolutionären Phase. Die meisten Probleme Xis sind selbst verschuldet. Er hat bereits seit Beginn seiner Amtszeit eine schlechte Wirtschaftspolitik verfolgt und sich alle Mühe gegeben, die reformistischen Errungenschaften Deng Xiaopings zunichtezumachen. Xis "Null Covid"-Politik war sein größter Patzer. (…)

"Alle Voraussetzungen für einen Regimewechsel oder eine Revolution."

Die chaotische Vorgehensweise, mit der Xi Jinping "Null Covid" aufgab, hat das Vertrauen des chinesischen Volkes in die Kommunistische Partei unter seiner Führung erschüttert. Die aktuelle Lage erfüllt alle Voraussetzungen für einen Regimewechsel oder eine Revolution. Dies ist jedoch nur der Anfang eines undurchsichtigen Prozesses, dessen Auswirkungen noch eine lange Zeit zu spüren sein werden.

In der nächsten Zukunft wird sich Xi wohl an der Macht halten können, da er alle Repressionsinstrumente in der Hand hat. Meiner Überzeugung nach wird Xi jedoch nicht sein Leben lang im Amt bleiben. Und während seiner Amtszeit wird China nicht die dominierende militärische und politische Kraft werden, die Xi anstrebt. Zu Xis Glück droht ihm keine persönliche Gefahr aus dem Ausland, denn Biden ist nicht an einem Regimewechsel in China interessiert. Vielmehr will er lediglich den Status quo in Taiwan wiederherstellen. (...) Doch die Entdeckung eines chinesischen Überwachungsballons, der die Grenzen der Vereinigten Staaten überquerte, hat das Verhältnis zwischen den beiden Ländern getrübt und ist auf dem besten Weg, die Beziehungen insgesamt zu vergiften. Inzwischen sind viele weitere Flugobjekte gesichtet worden. (...)

"Trump wollte wie Putin sein."

Um das geopolitische Bild zu vervollständigen, noch ein Blick darauf, wie die Demokratie in den Vereinigten Staaten funktioniert. Offenkundig nicht sehr gut. Als Donald Trump im Jahr 2016 Präsident wurde, stellte er eine echte Bedrohung für unsere Demokratie dar.

Der Demokratie fühlt er sich in keiner Weise verpflichtet; die Demokratie bietet ihm lediglich eine Showbühne für seine Auftritte. Als Präsident war er mehr daran interessiert, mit Diktatoren zu kumpeln, als demokratische Werte zu verteidigen. Trump wollte wie Putin sein, der ein Vermögen anhäufte und gleichzeitig die totale Kontrolle über sein Land ausübte.

Eine dritte Partei?

Meine Hoffnung für 2024 ist, dass Trump und Gouverneur Ron DeSantis aus Florida um die Nominierung der Republikaner wetteifern werden. Trump ist inzwischen zu einer bemitleidenswerten Figur verkommen, fortwährend seine Niederlage von 2020 beklagend. Große republikanische Geldgeber lassen ihn in Scharen im Stich. DeSantis ist gewieft, rücksichtslos und ehrgeizig. Er wird wahrscheinlich der Kandidat der Republikaner.

Dies könnte Trump verleiten, als Kandidat einer dritten Partei anzutreten. Die Folge wäre ein Erdrutschsieg der Demokraten, der die Republikanische Partei zwingen würde, sich zu reformieren. Aber möglicherweise bin ich hier ein klein wenig voreingenommen. (George Soros, 16.2.2023)