Philosoph Michael Marder schreibt in seinem Gastkommentar darüber, wie in Russland wieder über die längst vergessen geglaubte Planwirtschaft diskutiert wird.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion lange Zeit als "geopolitische Katastrophe" betrachtet. Der Einmarsch in die Ukraine, der sich nun zum ersten Mal jährt, könnte als Höhepunkt seiner jahrelangen Bemühungen um die Wiederherstellung des Sowjetimperiums angesehen werden. Während diese Bemühungen mit ziemlicher Sicherheit scheitern werden, könnte es Putin gelingen, eine der schlimmsten Eigenschaften der UdSSR wiederzubeleben: ihr zentralisiertes, sklerotisches Wirtschaftssystem.

Während Russlands Wirtschaft unter den Sanktionen des Westens leidet, plädieren einige der führenden Ökonomen und Mathematiker des Landes für eine Rückkehr zu den Zeiten der Fünfjahrespläne und der quantitativen Produktionsziele. In einem Interview anlässlich des hundertsten Jahrestages der Gründung der Sowjetunion forderte der Wirtschaftswissenschafter Ruslan Grinberg die Wiedereinführung der Planwirtschaft – eine Meinung, die leicht abgetan werden könnte, wäre Grinberg nicht der Leiter des einflussreichen Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Sein Krieg bringt die eigene Wirtschaft in massive Schwierigkeiten: der russische Präsident Wladimir Putin.
Foto: EPA/YURI KOCHETKOV

Rückkehr zum Fünfjahresplan?

Was Grinberg vorschlug, war keine Kriegswirtschaft, in der die Produktion auf die Bedürfnisse des Militärs ausgerichtet ist. Eine Planwirtschaft sollte seiner Ansicht nach "nicht direktional, sondern indikativ" sein. Die Regierung müsse wirtschaftliche Prioritäten formulieren, dürfe aber den Unternehmen nicht vorschreiben, was sie wann zu produzieren hätten. Stattdessen sollte der Staat "die Produktion sowohl durch Subventionen als auch durch Steuer- und Zollpolitik anregen".

Doch während Grinberg versucht, ein Gleichgewicht zwischen Plan und Markt herzustellen, sind andere weiter gegangen. Albert Bachtizin, der Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftsmathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften, befürwortet nicht nur eine "indikative Planung", sondern auch eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Fünfjahresplan (Pjatiletka), den er als "strategische Planung mit einer klaren Zieldefinition und einem System von sozial bedeutsamen Indikatoren" definiert. Seiner Ansicht nach sollte der Staat "berechnen, was wann produziert werden soll und was gebraucht wird".

"Putins 23 Jahre an der Macht – als Präsident und Premierminister – haben das öffentliche Bewusstsein Russlands verzerrt und sein politisches System verändert."

Angesichts der lähmenden internationalen Boykotte und Wirtschaftssanktionen könnte man diese Vorschläge als Zeichen der Verzweiflung deuten. Doch Russlands Ausschluss aus der Weltwirtschaft und anderen Bereichen mit internationalem Einfluss wie Wissenschaft, Sport und Kultur ist nur ein Teil der Geschichte. Die Rücknahme der postsowjetischen Wirtschaftsreformen, die von Michail Gorbatschow und Boris Jelzin eingeleitet wurden, markiert die jüngste Phase des ideologischen, sozialen und politischen Rückschritts in Russland.

Russlands neu entdeckte Schwärmerei von der sowjetischen Wirtschaft ist ironisch, wenn man bedenkt, dass die bürokratische, ineffiziente und letztlich nicht funktionierende Wirtschaft der UdSSR eine der Hauptursachen für deren Zusammenbruch war. Aber es gibt noch einen anderen, tieferen Grund, warum sich die Russen zunehmend von der Marktwirtschaft abwenden.

Mehrere Zeitlinien

Putins Einmarsch in der Ukraine steht für das, was ich die Implosion der Geschichte nenne. So unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, in diesem katastrophalen Krieg laufen mehrere Zeitlinien zusammen: der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Katastrophe von Tschernobyl und die beiden Weltkriege sowie Stalins künstlich herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine und die Unterdrückung in den 1930er-Jahren. Wenn sich historische Entwicklungen in einem einzigen Ereignis konzentrieren und verdichten, bringen sie die Ordnung der historischen Zeit durcheinander.

Die Implosion ist vergleichbar mit dem Spiegel, durch den Alice in Lewis Carrolls Roman eine alternative Realität betritt. Die Verzerrung der Realität spiegelt sich in der Sprache wider. So ist der Krieg in der Ukraine kein Krieg, sondern eine "spezielle militärische Operation". Oder, wie die Russen jetzt scherzen, ihre Armee zieht sich nicht zurück, sondern führt "negative Gegenoffensiven" durch.

Die Auswirkungen dieser alternativen Realität beschränken sich jedoch nicht auf die Sprache. Putins 23 Jahre an der Macht – als Präsident und Premierminister – haben das öffentliche Bewusstsein Russlands verzerrt und sein politisches System verändert. Im Gegensatz zu der eher prowestlichen Haltung der ersten beiden Amtszeiten Putins hat der spätere Putinismus die Züge der sowjetischen Ära der Stagnation angenommen, die mit der Ablösung Nikita Chruschtschows durch Leonid Breschnew im Jahr 1964 begann. Die Invasionen in Georgien im Jahr 2008 und in der Ukraine im Jahr 2014 waren die Mittel, mit denen Putin versuchte, Russlands Malaise abzuschütteln und die Politik des Landes zu beleben.

Schrecken stalinistischer Unterdrückung

Damit sind wir bei der aktuellen Exhumierung der zentralen Planung angelangt. Nachdem Russland durch den Spiegel des Krieges in der Ukraine gegangen ist, wiederholt es weniger die sowjetische Geschichte – vielmehr wird sie in einem beschleunigten Tempo reinszeniert. Die ersten Pjatiletkas standen für den Übergang von Lenins Neuer Ökonomischer Politik zu den Schrecken der stalinistischen Unterdrückung.

Der logische Endpunkt einer Planwirtschaft ist heute derselbe wie damals: Massenenteignung. Stalins Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren führte zu Millionen von Toten, und die postkommunistische "Schocktherapie" der Privatisierung führte zur Verbreitung von "Plünderern" und zur Schaffung einer neuen Klasse von Oligarchen. Nun könnte Russland, von imperialer Nostalgie beflügelt, kurz davor stehen, eine neue gewaltsame Welle der Enteignung und Umverteilung einzuleiten.

Derzeit richtet sich die Gewalt in erster Linie gegen die Energieanlagen und die zivile Infrastruktur der Ukraine. Die russische Duma hat außerdem vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, das die Straffreiheit für von russischen Soldaten in den besetzten Gebieten der Ukraine begangene Verbrechen vorsieht und damit die Beschlagnahme ukrainischer Güter und privaten Eigentums legalisiert. Angesichts des rasanten Rückschritts Russlands ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Enteignung im eigenen Land das Land an den Rand eines Bürgerkriegs treibt. Ein Teil der intellektuellen Elite Russlands scheint bereits damit einverstanden zu sein. (Michael Marder, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright Project Syndicate, 26.1.2023)