Schon jetzt ist die Mehrheit der SPÖ-Mitglieder älter als 60. Die Partei muss raus aus der Nabelschau, fordert Christian Cap, ehemaliger Bundesvorsitzender der Jungen Generation, in seinem Gastkommentar.

Die Partei ist ganz mit sich selbst beschäftigt: SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner muss um den Vorsitz kämpfen.
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Politik ist kein schmutziges Geschäft. Weil sie nichts mit einem Geschäft gemein hat. Politik ist die Kunst, mit der Wirklichkeit gestaltend umzugehen. Diese Aufgabe anzunehmen verweigert die Sozialdemokratie auf kunstvollste Art und Weise. Dabei liefern die Krisen unserer Zeit genug gesellschaftlichen Rohstoff, um vieles zum Besseren zu wenden.

Das Kleine zuerst: ein Kanzler, der seine große Perspektivenrede mit dem Bekenntnis zum Verbrennermotor medial abschießt, zeigt, dass seine politische Perspektive, absurderweise, jenseits wissenschaftlicher Fakten zur Klimaerwärmung angesiedelt ist. Eine Steilvorlage für jede Oppositionspartei, wenn deren politische Handlungsperspektive auf 30, 40 Jahre ausgelegt wäre. Aber, kaum rote Reaktionen.

Das Trauerspiel in Niederösterreich, bei dem die schrankenlose Demontage der Hauptprotagonistin durch den "Koalitionsgegner" nahezu schmerzhafte Fernsehbilder produziert, eine Steilvorlage für die SPÖ, um die eigene schablonenartige Ablehnung der FPÖ endlich griffig begründen zu können. Die Folge: mildes mediales Reagieren seitens der SPÖ.

Ökonomischer Raubzug

Eine Inflationsrate bei Lebensmitteln und Energie, die in Österreich höher ist als in den meisten europäischen Ländern, weil sie zu einem Gutteil aus Umverteilungsgewinnen zulasten der Österreicherinnen und Österreicher besteht. Oder, um es deutlicher zu formulieren: ein ökonomischer Raubzug gegen den Mittelstand und gegen die, die finanziell ohnedies nicht mehr zurande kommen, und das unter dem Deckmantel scheinbar unabänderlicher Marktmechanismen. Eine Steilvorlage für Sozialdemokraten, wenn man keine Angst davor hat, das Scheitern liberaler Wirtschaftsmodelle zu diskutieren. Befund: sozialdemokratisches Zaudern.

Österreich ist ein Land mit einer vollkommen verzerrten Verteilung von Vermögen. Die statistische Erfassung dieser Situation baut auf vagen Schätzungen auf. Zuverlässige Ziffern zur Vermögensstruktur sind nicht verfügbar. Und das nicht ohne Grund. Vermögen geht einher mit Macht und Einfluss. Verdecktes Vermögen mit verdeckter Macht und verdecktem Einfluss. Alles zusammen eine Gratiseintrittskarte in eine längst überfällige Verteilungsdiskussion. Die Reaktion der SPÖ: Bitte warten!

Erweiterte Entwicklungshilfe

Eine Flüchtlingsdebatte mit hysterischen Zügen, die auf einer – eifrigst von der FPÖ mitgestrickten – irrealen Wirklichkeitsanalyse aufbaut. Wer glaubt, tausende Kilometer Land- und Seegrenzen dauerhaft absperren zu können, der kann zur Wirklichkeit nur ein schemenhaftes Verhältnis haben. Europas Bevölkerung schrumpft derzeit trotz Zuwanderung. Wäre es nicht ein Ansatz, im ersten Schritt Flüchtlingen eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsmöglichkeit zu geben, den Arbeitsmarkt für diese Menschen zu öffnen, wo immer sinnvoll, in deren Ausbildung zu investieren, als eine Form einer erweiterten Entwicklungshilfe? Ist es so absurd, Menschen, die zeitlich begrenzt wegen ihrer Armut zu uns kommen, nach ihrer Rückkehr als zukünftige Partner wichtiger Handelsbeziehungen zu sehen? Wo bleibt da die sozialistische Lösungsfantasie?

Nächster Punkt? Ein Kriegsschauplatz, der zu Wien näher liegt als die Grenze zur Schweiz. Ein Kriegsschauplatz des unermesslichen menschlichen Leids, auf dem eine Autokratie gegen die Werte einer offenen Gesellschaft ankämpft und der die finanziellen Mittel zu verschlingen droht, die für die überfällige Ökologisierung der Wirtschaft Europas vorgesehen waren. In der Ukraine wird sich zeigen, ob internationale Verträge in Zukunft noch einen Wert besitzen, eine Frage, die ein kleines neutrales Land, wie Österreich, besonders betrifft. Außenpolitische Themen, die nach einem nationalen Schulterschluss verlangen. Befund: sozialdemokratisches Desinteresse.

Perspektive auf ein gutes Leben

Immer mehr junge Menschen fühlen, dass die Erderwärmung, noch früher als befürchtet, ihre gesamte Lebensspanne bedrohlich beeinflussen wird. Menschen im Schulalter werden zu den wichtigsten Verantwortungstragenden unserer Zukunft. Die etablierte Mitte-rechts-Politik in Österreich verweigert beharrlich, diese Anliegen in der Tagespolitik abzubilden. Im Gegenteil: Die FPÖ-Begriffe "Klimachaoten" und "Klimaterroristen" geben die stramme Marschrichtung aus dieser Ecke bereits vor.

Eine ganze Generation junger Menschen hat daher das berechtigte Gefühl, dass ihre Lebensspanne und ihre Lebensperspektive keinen Platz in der aktuellen politischen Landschaft findet.

Das Durchschnittsalter der SPÖ-Parteimitglieder liegt bei mehr als 60 Jahren. Diese ist, statistisch betrachtet, eine Partei der Großmütter und Großväter. Als 67-jähriger Verfasser dieses Gastkommentars meine ich daher, es ist höchst an der Zeit, dass wir uns unserer Verantwortung gegenüber der Enkelgeneration wieder bewusst werden. Das bedeutet, dass diese alte Traditionspartei endlich ein umfassendes Facelifting beginnt, indem sie eine politische Hoffnungsperspektive entwickelt, wie unser Leben in zehn, 15, 30 und 50 Jahren aussehen soll und wie wir das erreichen können.

Raus aus der Nabelschau

Das bedeutet aber auch, raus aus der Nabelschau, hin zu Europa, die Europäische Union als Chance sehen, andere Konzepte aufnehmen, rote Prinzipien hinterfragen, parteiferne Menschen, mit ähnlichen Werten, einladen, dieses programmatische Ertasten unserer Zukunft mit ihrem Wissen zu begleiten. Die Mehrfachkandidaturen, die sich jetzt zeigen, sind eine klare Botschaft an die aussichtsreichsten beiden Kandidierenden.

Die ungemein sympathische Vorsitzende, der es seit Jahren nicht gelingt, wichtige Themen zu entwickeln, medial zu transportieren und in der Gesellschaft breit zu verankern, ist ebenso wenig die Lösung wie der Gegenkandidat, dessen eigenes Wirklichkeitsbild allzu sehr von der irrealen Wirklichkeitssicht der FPÖ inspiriert ist. Beide sind derzeit Garanten, dass die Mitglieder der SPÖ in spätestens zehn Jahren unfreiwillig zu Europas größter Rentnerband werden. (Christian Cap, 27.3.2023)