Erst wenn die Führungsfrage geklärt ist, kann die Partei ihr programmatisches Profil schärfen, sagt Johannes Kunz, der ehemalige Pressesprecher von Bundeskanzler Bruno Kreisky, im Gastkommentar.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner steht parteiintern weiter unter Druck. Was bringt die aufgeschobene Führungsfrage der Sozialdemokratie?
Foto: APA / Robert Jaeger

Wann immer ein SPÖ-Politiker von einem Journalisten in diesen Tagen – zu welchem Thema auch immer – interviewt wird, eine Frage bleibt ihm nicht erspart: Ist Pamela Rendi-Wagner die Richtige an der Parteispitze, um als Kanzlerkandidatin in die 2024 anstehende Nationalratswahl zu ziehen? Die Antworten fallen differenziert aus, je nachdem, wer gefragt wird, der Wiener Bürgermeister etwa oder der burgenländische Landeshauptmann. Das Ergebnis in der Außenwirkung ist, ob das der Löwelstraße passt oder nicht, eine dahinköchelnde Führungsdiskussion, welche die Partei nicht aus der Defensive kommen lässt. Seit einigen Monaten zeigen daher auch die Meinungsumfragen eine für die SPÖ negative Tendenz.

"Eine mutwillige Selbstbeschädigung einer Partei, die den Führungsanspruch stellen muss."

Die Argumentation, im kommenden Jahr sei ohnedies ein Bundesparteitag und die Frage der Kanzlerkandidatur werde rechtzeitig vor der Nationalratswahl entschieden, grenzt an parteischädigendes Verhalten. Eine über den Sommer hinaus andauernde Führungsdiskussion in der SPÖ mit zu erwartender medialer Begleitmusik wäre nichts anderes als mutwillige Selbstbeschädigung einer Partei, die den Führungsanspruch stellen muss.

Der Ausweg heißt: nach der Salzburger Landtagswahl im April rasch klare Verhältnisse schaffen. Wenn es Herausforderer für Parteiführung und/oder Kanzlerkandidatur gibt, sollen sie sich deklarieren. Die Parteistatuten sehen ein Prozedere für eine vorgezogene Personalentscheidung vor. Sollte die Führungsfrage nicht anders als durch eine Kampfabstimmung geklärt werden können, ist das auch kein Unglück. Jedenfalls muss das zerstrittene Bild, das die SPÖ derzeit abgibt, umgehend korrigiert werden. Die Wählerinnen und Wähler haben ein Recht darauf, zu wissen, wer in den um ihre Stimmen werbenden Parteien das Sagen hat. Das Gegenteil von Geschlossenheit führt schnurstracks in die Niederlage.

Neue Reformära

Ist die Führungsfrage einmal geklärt, steht eine nicht minder wichtige Aufgabe an: die Beantwortung der Frage, wofür die SPÖ fünfzig Jahre nach der Reformära unter Bundeskanzler Bruno Kreisky steht. "Leistung, Aufstieg, Sicherheit" hieß damals ein Slogan, der nichts an Bedeutung verloren hat und auch heute als Überschrift für eine sozialdemokratische Erzählung dienen kann. Welche Wirtschafts- und Strukturpolitik ist notwendig, um den Wirtschaftsstandort Österreich zu stärken, den Wohlfahrtsstaat zu erhalten, den Familien ein leistbares Leben, der Jugend eine gute Bildung und im Alter Pensionen, die diesen Namen verdienen, zu sichern? Welche Lehren müssen wir aus der Corona-Pandemie für unser ächzendes Gesundheitssystem und die Pflegevorsorge ziehen? Hier geht es nicht vordergründig um wahltaugliche Schlagworte, sondern um konkrete Lösungsvorschläge.

Man denke auch an die Herausforderungen für die innere und äußere Sicherheit von der Migration bis zur Rolle Österreichs in einer neuen europäischen Landschaft angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine, Stichwort Neutralität. Welchen Beitrag kann und soll Österreich zu einer Stärkung Europas im politischen und ökonomischen Wettstreit mit den USA und Asien leisten? Die Sozialdemokratie, seit ihrer Gründung eine internationalistische Bewegung, muss auch zu diesem Thema, einer konstruktiven Funktion Österreichs in der EU, ein Angebot machen. Die Demoskopie sagt uns ja, dass derzeit so viele Bürgerinnen und Bürger von der Politik enttäuscht sind, weil sie keine Antworten auf drängende Fragen bekommen.

Partei wieder öffnen

Nicht alles, was unter Kreisky richtig war, hat heute noch Bestand. Aber eines kann sich die SPÖ von ihrer historisch erfolgreichsten Periode abkupfern: Programmatische Antworten auf die Fragen der Zeit findet man nicht in einer inhaltlich-ideologischen sowie personellen Verengung. Es braucht die Öffnung zu Wissenschaft, Forschung, Kultur und Zivilgesellschaft, einen Diskurs mit den besten Köpfen des Landes. Ein progressives Reformprogramm wird nicht von Parteisekretären geschrieben, sondern entsteht im intellektuellen Austausch.

"Die Zeit der Apparatschiks als Votegetter ist längst vorbei, und das ist gut so."

Über ein halbes Jahr könnte sich ein solcher Diskussionsprozess erstrecken und zu Beginn 2024 in eine Punktation klar strukturierter Maßnahmen in den wichtigsten Politikfeldern münden. Zu diesem Zeitpunkt wird die Formierung eines die Parteispitze unterstützenden Kompetenzteams anstehen. Es geht um fünf, sechs Personen, die glaubwürdig für die Umsetzung der politischen Ziele, gegebenenfalls in der nächsten Bundesregierung, stehen. Auch dabei sollte die SPÖ für die eine oder andere unkonventionelle Entscheidung, ja Überraschung, gut sein. Die Anforderungen an diesen Personenkreis reichen von unbestrittener Fachkompetenz über die Akzeptanz über die SPÖ-Anhängerschaft hinaus bis zur heute unbedingt erforderlichen Medientauglichkeit. Die Zeit der Apparatschiks als Votegetter ist längst vorbei, und das ist gut so.

Nicht weiter Vogel-Strauß-Politik

Das dargestellte Szenario dient der Schärfung des Profils der SPÖ, ist machbar, erfordert aber Mut der Akteurinnen und Akteure. Es handelt sich dabei um keine neue Strategie, vielmehr könnte es aus einem Handbuch für politisches Management in einer offenen Gesellschaft stammen.

Ich weiß nicht, ob die SPÖ willens und in der Lage ist, diese Gedanken in die Tat umzusetzen. Aber welche Alternativen hat sie denn? Eine Vogel-Strauß-Politik des Kopf-in-den-Sand-Steckens und des Wartens auf Fehler der politischen Mitbewerber kann es wohl nicht sein. Das hatten wir schon. Eine SPÖ auf der Höhe der Zeit wäre auch ein Gewinn für unser ganzes politisches System und würde im besten Fall die längst überfällige inhaltliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien über die Zukunft Österreichs beflügeln.

Optimismus und Zuversicht

Mit Optimismus und Zuversicht, die heute im öffentlichen Leben so sehr fehlen, könnte ein Wettstreit um die besten Ideen für unser Land einsetzen. Eine solche Katharsis könnte – man wird sich ja noch etwas wünschen dürfen – einen interessanten Wahlkampf 2024 und in der Folge eine sachorientierte neue Regierungskonstellation bringen. (Johannes Kunz, 28.2.2023)